Und am Ende fahren die Götter wie Sterbliche. Am vergangenen Wochenende reichte es Valentino Rossi gerade noch zum 13. Platz. Viel besser wird es am Sonntag im 432. und letzten Rennen nicht mehr. Er hat den Zeitpunkt für seinen Rücktritt verpasst. Oder doch nicht? Nein, er hat den Zeitpunkt nicht verpasst. Weil er längst in den Sporthimmel der Legenden aufgestiegen und über diesen Zeitpunkt erhaben ist. Mit dem Privileg, so lange zu fahren, wie er mag. Darin ähnelt er Roger Federer.
Only one name on everybody's lips today! 🗣️
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Dass Valentino Rossi so lange weitergemacht hat, auch als er längst chancenlos ist, liefert uns eine Erklärung für die grösste Töff-Karriere der Geschichte. Natürlich hat der Italiener einen der gefährlichsten Berufe der Welt ausgeübt, um Geld zu verdienen. Mindestens 40 Millionen Euro waren es in seinen besten Jahren. Und als ihm der italienische Staat vorrechnet, rund 160 Millionen Einnahmen nicht deklariert zu haben, löst er das Problem mit einer Nachzahlung von 15 Millionen. Aber es ist nicht Geld, es ist die Leidenschaft, die ihn über all die Jahre antreibt.
In Kombination mit Talent und Intelligenz wird daraus eine globale Karriere mit Ausstrahlung weit über den Motorsport hinaus. Valentino Rossi verzaubert, begeistert, verblüfft mit der scheinbaren Leichtigkeit, mit der er Höllenmaschinen zähmt, die Sterbliche nicht einmal in Gang zu setzen vermögen. Seine Verehrung hat im Laufe der Jahre schon fast sektiererische Züge angenommen («Rossimania»). Er kombiniert diese Leichtigkeit des Seins mit Schalk und Witz, mit immer wieder neuen Bemalungen seines Helmes und Possen auf den Ehrenrunden. Bis gar viele glauben, der Supermann sei auch ein Clown. Aber genau das ist er eben nicht.
Emotional thursday in Valencia
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So wie Valentino Rossi das Publikum zu unterhalten, ja zu verzaubern versteht, so weiss er in seinen besten Jahren mit Worten die Seele seiner Rivalen zu treffen. Die Gegner zerbrechen nicht nur an seiner Fahrkunst und seinem technischen Verständnis. Sie sind ihm mental nicht gewachsen. Nur nach aussen erfindet er sich immer wieder neu. Nach innen verändert er sich nicht und verfolgt geradlinig seine Ziele. Die Geschichte kennt nicht viele Piloten, die so zielstrebig, akribisch und wenn nötig unerbittlich ihren Weg gegangen sind. Im Umgang charmant, witzig und freundlich bleibt er doch unnahbar und vertraut nur einem ganz engen Kreis um seinen Schulfreund Uccio Salucci.
Ist Valentino Rossi der Grösste aller Zeiten? Ja. Nicht statistisch. Sein Landsmann Giacomo Agostini hat zwischen 1963 und 1977 sieben Siege und sechs WM-Titel mehr herausgefahren. Aber Valentino Rossi hat die «Königsklasse» ein Jahrzehnt lang gegen stärkere Konkurrenz fast total dominiert. Er geht als letzter Titan in die Geschichte ein. Mag sein, dass er einmal statistisch eingeholt wird. Aber diese Kombination von Fahrkunst und Showtalent wird es nicht mehr geben. Weil die Ausgeglichenheit einfach zu gross und die Freiräume zu eng geworden sind.
Mit Valentino Rossis Rücktritt geht im GP-Zirkus die «Belle Epoque» zu Ende. Die Zeit der wilden und der tragischen Helden, die ab und zu auch Harlekine sein konnten. Wir sind eingetreten ins Zeitalter der Technokraten, die ihre Maschinen programmieren und nicht mehr bespielen wie Instrumente.
Der Ehrendoktor der Kommunikation bleibt der Szene erhalten. Er wird mit einem eigenen Team und Ducati als Geschäftsmann in die «Königsklasse» einsteigen. Als Teamchef wird er berühmter sein als seine zwei Fahrer Luca Marini und Marco Bezzecchi. Als Rennfahrer geht seine Karriere auf vier Rädern bei Ferrari weiter. Valentino Ross mit seiner Kultnummer 46 im Ferrari bei den 24 Stunden von Le Mans? Warum nicht?
Der Zufall will es, dass Tom Lüthi am Sonntag in Valencia sein letztes Rennen mit 35 am gleichen Ort und am gleichen Tag fährt wie Valentino Rossi. Seine Karriere mag im Vergleich nur eine Episode sein. 17 gegen 115 Siege, 66 gegen 235 Podestplätze, ein WM-Titel gegen neun. Und die gesamten Einnahmen dürften kleiner sein als Valentino Rossis einmalige Steuernachzahlung in der Höhe von 15 Millionen. Auch Tom Lüthi wird der Szene erhalten bleiben: als Sportchef eines deutschen Moto3-Teams (Prüstel).
Und doch ist Tom Lüthi – auf die beschaulichen helvetischen Verhältnisse übertragen – ein wenig einer wie Valentino Rossi. Kein Harlekin. Dieser Wesenszug liegt weder einem Schweizer noch einem Emmentaler. Und auch in seiner Zielstrebigkeit war Lüthi nie so unerbittlich gegen sich und andere wie Valentino Rossi. Aber auch er fasziniert das Publikum wenigstens einmal mit seiner spielerischen Leichtigkeit: In dem Jahr, in dem er 2005 als 18-jähriger Bub Weltmeister und vor Roger Federer Sportler des Jahres wird. Und hinter seiner Karriere steht die gleiche Leidenschaft. Deshalb hat auch er nur scheinbar den perfekten Zeitpunkt für den Rücktritt um zwei Jahre verpasst.
In der WM liegt Tom Lüthi vor dem letzten Rennen auf dem 22. und Valentino Rossi auf dem 20. Platz. Am Ende fahren die Götter wie Sterbliche. Valentino Rossi und Tom Lüthi waren die letzten ihrer Art. Es ist das Ende einer Ära.
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Glenn Quagmire
Pikay