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Jason Dupasquier: Tod in der Arena, Tragik für Millionen

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MotoGP-Fahrer und Teams erweisen dem verstorbenen Jason Dupasquier die lezte Ehre. Bild: keystone
Kommentar

Tod in der Arena, Tragik für Millionen

Der Rennfahrer Jason Dupasquier hat sein Leben verloren: die Faszination des Risikos als Rebellion gegen die «Vollkasko-Gesellschaft»
01.06.2021, 07:2301.06.2021, 12:45
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Warum wählt ein kluger junger Mann einen Beruf, bei dem er auf einer Höllenmaschine sitzend mit mehr als 200 Kilometer pro Stunde um die Wette fährt? Er könnte doch eine Karriere als Banker oder Ingenieur machen. Warum übt er einen Sport aus, bei dem er in jedem Training und Wettkampf sein Leben und seine Gesundheit riskiert?

Das sind Fragen, die wir uns nach dem tödlichen Unfall des Motorradrennfahrers Jason Dupasquier stellen. Er wäre am 9. Juli 20 Jahre alt geworden. Er ist ein neuer Name auf einer langen Liste von Männern und Frauen, die in Risikosportarten auf eisigem Schnee oder Asphaltpisten ihr Leben verloren haben: Jo Siffert, Jochen Rindt, Ayrton Senna, Herbert Müller, Leonardo David, Ulrike Maier, Gernot Reinstadler …

Aber es gibt noch eine Frage: Woher kommt diese unheimliche Faszination für Töff- und Autorennen, für die Ski-Abfahrt und, nicht zu vergessen, die Lust am Risiko im Freizeitsport? Warum wenden wir uns nicht ab vom gefährlichen Spektakel auf den Rennpisten? Warum schauen wir doch hin? Warum meiden wir nicht konsequent gefährliche, risikoreiche Freizeitbeschäftigungen?

Oder noch viel banaler: Warum entfernen wir uns aus dem geschützten Alltagsbereich, aus dem gewohnten Umfeld, um etwas Waghalsiges zu unternehmen, wohl wissend um die damit verbundenen Risiken, um mögliche gesundheitliche Schäden? Und warum schauen wir, wenn wir etwas weniger mutig sind, im Fernsehen Menschen zu, die sich bei Wettkämpfen in Todesgefahr begeben?

Tod und Sterben waren in der vormodernen Zeit Teil des Alltags und der Alltag ein Risiko. Jeder Beinbruch, jede kleinste Infektion konnte den Tod bringen, eine Feuersbrunst oder eine Krankheit den Sturz in die Armut.

Diese jahrtausendealte Vertrautheit mit der Schicksalshaftigkeit des Lebens gibt es nicht mehr. Noch nie lebten wir in unseren Breitengraden sicherer. Oder besser: versicherter. Und ein endloser Strom von Verboten, Vorschriften und Regeln sorgen dafür, dass diese Sicherheit noch grösser und jedes denkbare Risiko ausgeschaltet oder minimiert wird. Dafür bezahlen wir viel Geld und nehmen immer weiterreichende Einschränkungen unsrer persönlichen Freiheiten in Kauf. Wir leben im 21. Jahrhundert in unserem Teil der Welt einer «Vollkasko-Gesellschaft.»

Aber entspricht die «Vollkasko-Mentalität» unserer wahren Natur, unserem Wesen? Der Mensch ist ein Geschöpf, das sich über Jahrmillionen in einer feindlichen Umwelt gegen unzählige Feinde durchgesetzt hat.

Der Adrenalinkick, ausgelöst, um im Moment höchster Gefahr zu überleben, gehört zu unserer Natur. Und seit wir die Herrschaft über die Schöpfung übernommen und die archaischen Zeiten scheinbar hinter uns gelassen haben, sind wir doch nicht zur Ruhe gekommen. Der englische Philosoph Thomas Hobbes hat schon im 17. Jahrhundert gesagt, der Mensch sei des Menschen Wolf. Wir sind wahrscheinlich tief in unserem Inneren noch nicht bereit für eine langweilige Vollkasko-Gesellschaft.

Früher faszinierten die Menschen tapfere Krieger und mutige Forscher. Männer, die Gefahren trotzten. Feinde zur Strecke brachten. Drachen erschlugen. Den Teufel überlisteten oder Meere durchsegelten. Zahllos sind die Heldensagen: von Odysseus und seiner abenteuerlichen antiken Kreuzfahrt. Von David, der den Goliath tötete. Von Julius Cäsar, der Gallien eroberte. Von Marco Polo, der nach China reiste. Von Robert Scott, der auf der Rückkehr vom Südpol mit seinen Getreuen erfror. Von Charles Lindbergh, der den Atlantik überflog.

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Abschied nehmen von Jason Dupasquier.Bild: keystone

Nicht nur Atmen, Essen, Schlafen und Trinken gehören zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Oft geht vergessen, dass wir auch ohne Geschichten über Heldengestalten nicht leben wollen.

Früher wurden diese Geschichten am Lagerfeuer erzählt. Heute ist es die Medienindustrie, die unseren Alltag mit Helden bevölkert. Und da heute die Drachen erschlagen, Gallien erobert, die Teufel ausgetrieben, die Welt vermessen und der Mond betreten ist, liefert uns vor allem der Sport verlässlich und regelmässig diese Sagenfiguren.

So sehr uns sportliche Höchstleistungen begeistern – die wahren Helden, die uns faszinieren, sind jene, die sich in Gefahr begeben. Die Höllenmaschinen steuern. Die sich auf Brettern von den Berge herabstürzen. Die ihr Leben riskieren.

Bildermaschinen übertragen ihre Taten in unsere Stuben und wir sehen mit wohligem Schauern zu. So gross das Entsetzen auch sein mag, wir können und doch nicht aus dieser Faszination befreien. Es ist der passive Adrenalinkick. Und die mutigeren unter uns suchen diesen Kick im richtigen Leben. Sie stürzen sich an Gummiseilen von Brücken herunter, springen mit Stummelflügeln von hohen Felsen oder rasen viel zu schnell auf zwei oder vier Rädern dahin.

Es ist wie eine Rebellion gegen die «Vollkasko-Gesellschaft». Die Faszination am Risiko geht von der Beherrschung der technischen und natürlichen Grenzwerte aus, die man erreichen oder gar überschreiten möchte. Weil das so schwierig ist, weil das so gefährlich ist, weil das viel Mut erfordert, weil das einer ganz zähen und systematischen Arbeit bedarf, und weil das Gefühl, zu einer ganz kleinen Elite zu gehören, ein sehr berauschendes ist, gibt es riskanten Freizeitsport und riskanten Profisport.

Werden Freizeit-Risikosportler von den Schwingen des Schicksals gestreift, so lesen wir irgendwo ein paar Zeilen oder gar nichts. Namenlose, einsame Tragik.

Helden werden nur jene, die an der Schwelle zu einer grossen Karriere das Wagnis eingehen, mit dem Schicksal einen Vertrag abzuschliessen und sich in die grosse Arena voller TV-Kameras wagen. Dieses Schicksal kann Berühmtheit und Geld einbringen. Aber im Nu alles wieder wegnehmen. Innert einer Sekunde.

Wie bei Jo Siffert. Oder Jason Dupasquier. Tragik für Millionen.

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