Zuerst einige Fakten zum Weitsprung:
Markus Rehm ist (unter Vorbehalt) neuer deutscher Weitsprung-Meister. Mit 8,24 Metern schockte er die Konkurrenz und verwies Christian Reif (8,20m) um vier Zentimeter auf Rang 2. Rehm war danach selbst überrascht. Im Vorfeld hatte er eine Verbesserung der eigenen Bestmarke (vorher 7,95m) um bis zu zehn Zentimeter für realistisch gehalten. Nach seinem Sprung erklärte er seinen Versuch als perfekt, wie er vielleicht nur einmal in der Karriere gelingt.
Experten geben zwar zu bedenken, dass ein Weitspringer die 100 Meter in 10,60 Sekunden laufen müsse, um acht Meter weit zu springen. Rehms Bestleistung steht bei 11,46 Sekunden. Seine Anlaufgeschwindigkeit liegt nur leicht über dem Niveau der Frauen.
Klar ist aber: 8,24 Meter weit springt man auch mit einer Karbonprothese nicht, wenn man zweimal in der Woche trainiert und täglich sein Müesli isst. Rehm arbeitet halbtags als Orthopädie-Techniker, den Rest nutzt er fürs Training, unter anderem in der paralympischen Sportfördergruppe der Bundeswehr. Der Behindertensport hat sich in den letzten Jahren extrem entwickelt und professionalisiert.
Doch neben Lob und Freude gesellt sich auch Kritik zur Leistung. Hilft ihm die Beinprothese? Katapultiert ihn die Karbon-Feder im Sprungbein weiter, als dies ein gesundes Bein könnte? Die Debatte läuft heiss, aber eigentlich gibt es dazu momentan nur eines zu sagen: Wir können es nicht sagen.
Die Diskussion macht derzeit etwa so viel Sinn wie wenn man die unzähligen Transfergerüchte im Fussball ernst nehmen würde. Man sollte sich dort auf definitive Wechsel beschränken und im Fall Rehm die Entscheidung den Profis überlassen.
Diese haben während den Meisterschaften die Sprünge des Leverkuseners mit Hochleistungskameras aufgezeichnet. Die Auswertung der biomechanischen Leistungsdiagnostik-Daten – die angeblich eine hohe fünfstellige Euro-Summe kostet – soll bis Mittwoch vorliegen. Dann will der deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) entscheiden, ob der 25-Jährige an die EM in die Schweiz darf oder nicht.
Der DLV gibt selbst zu, dass die Situation selbstverschuldet ist. Sie gewährte dem Athleten das Startrecht, unter Vorbehalt zwar, aber die Messungen, ob die Karbon-Prothese ihn bevorteilt oder nicht, hat er erst für den Wettkampf verordnet.
Vielleicht war der DLV zu blauäugig. Wer konnte schon ahnen, dass Rehm ein Quantensprung von 29 Zentimetern gelingt und er nicht nur seine eigene Bestleistung pulverisiert, sondern auch den Titel gewinnt? Wäre Rehm Vierter geworden, wen hätte dann die Prothese interessiert? Es ist ein bisschen wie im Radsport während der Armstrong-Ära. Die Sieger werden in der breiten Öffentlichkeit von Dopingjägern gehetzt, aber ob der Fahrer auf Rang 12, 34, 89 oder 163 der Tour de France auch unerlaubte Mittel benutzt, geht unter und interessiert die Zuschauer nicht.
Hätte Rehm die EM-Limite nicht übersprungen würden jetzt alle den DLV loben, wie fortschrittlich dieser sei und wie offen gegenüber behinderten Sportlern. Jetzt aber steht er in der Schusslinie.
Den schwarzen Peter dürfte der Verband aber weitergeben. Ob bis am Mittwoch, dem Tag der EM-Nominierung, tatsächlich stichhaltige Resultate vorliegen, ist offen. Nominiert der DLV Rehm, muss der europäische Verband (EEA) entscheiden. Generaldirektor Christian Milz hat da schon einmal vorgesorgt und erklärt: «Der europäische Kontinentalverband kann diese Entscheidung nicht treffen, dies muss der Weltverband IAAF tun.» Und wie soll der IAAF bis zum Start der EM eine faire Entscheidung fällen können? Startet Rehm am Ende wie in Deutschland «unter Vorbehalt» im Letzigrund? Was wenn er dann wieder aufs Podest springt?
Rehm ist nach Oscar Pistorius der zweite behinderte Sportler, der bei den Nichtbehinderten mitmachen darf. Wegen der erwähnten zunehmenden Professionalisierung des Behindertensports werden diese Fälle in Zukunft vermehrt vorkommen. Die Beurteilung der «Hilfsmittel» ist extrem komplex. Daher ist ein Entscheid der für alle gilt sehr schwierig und die Zulassung von «genormten Prothesen für den Spitzensport» kaum umsetzbar. Obwohl dies im Interesse aller wäre. Rehm selbst sagt gegenüber der Welt: «Wenn die Untersuchung ergibt, dass eine Prothese Vorteile bringt, ist es klar und richtig, dass ich nicht mehr im Feld der Nichtbehinderten starte.» Seine EM-Teilnahme für Zürich vor einem Gericht erstreiten – wie dies Pistorius mit der Olympia-Teilnahme 2012 tat – will er nicht.
Es darf momentan nur eine Entscheidung geben für alle Wettkämpfe: Solange nicht im Voraus genau geklärt ist, ob die Prothese einem Athleten einen Vor- oder auch Nachteil verschafft, sollte er nicht starten dürfen. Für den Sport, für die Gegner und auch für sich selbst.