Knapp 50'000 Zuschauer verbringen ihren Sonntagmorgen am Seebecken und in der Altstadt von Zürich. Jeder will dabei sein, wenn Viktor Röthlin an der Heim-EM das letzte Mal die Strecke über 42,195 Kilometer läuft – zum letzten Mal für immer. Auch für Röthlin ein aussergewöhnlicher Moment: «Es war ein sehr spezielles Rennen!»
Zur grössten Gefahr bei seinem Abschiedsrennen entwickelt sich für Röthlin die grossartige Unterstützung der Zuschauer, die ihn verlocken könnte, zu überborden: «Es war wirklich schwierig, bei diesem Lärm kein verrücktes Rennen zu veranstalten und den Lauf zu schnell anzugehen. Zum Glück konnte ich mich gut fokussieren.»
Ganz im Gegensatz zu Marcin Chabowski. Schon früh setzt sich der Pole vom Feld ab und gibt ein horrendes Tempo an. Folgen tut ihm vorerst niemand. Auch für Röthlin war klar, dass Chabowski brutal einbrechen würde:
«Ich wusste, dass er dieses Tempo nicht durchziehen kann. Er war übermotiviert, sagte mir vor dem Rennen mehrmals, er werde Europameister. Doch ein Läufer, dessen längster Lauf zuvor 32 Kilometer lang war, kann so keinen Marathon gewinnen.»So ist es dann auch. Chabowski muss vor dem letzten Anstieg beim Seilergraben aufgeben, nachdem er vom Italiener Daniele Meucci überholt wurde. Dieser kann das Tempo halten und gewinnt schlussendlich überlegen die Goldmedaille. Röthlin versucht zwar noch Boden gut zu machen, aber es ist nicht möglich: «Das ist die Realität und zeigt, dass ich alt geworden bin. Es Zeit ist, ins Leben B zu wechseln.»
Mit leeren Händen verschwindet ein Röthlin aber nicht von der Bildfläche. Dank starken Auftritten seiner Teamkollegen Tadessse Abraham und Christian Kreienbühl verabschiedet sich Röthlin mit einer Bronzemedaille in der Teamwertung vom Profi-Leben. Eine Medaille mit grosser Bedeutung für den 39-Jährigen: «Man überlegt sich immer, was nach dem Rücktritt bleiben wird. Jetzt weiss ich: Es bleibt ein Team mit Zukunft. Mit Abraham und Kreienbühl und all den anderen ist eine coole Truppe zusammen gekommen. Für mich ist es die schönste Freude, dass die Marathon-Geschichte nicht zu Ende ist.»
Die Medaille ist das Resultat eines beherzt auftretenden Teams. Christian Kreienbühl hält sich zu Beginn noch zurück, macht in der zweiten Hälfte aber Platz für Platz gut: «Auf der letzten Runde hat mir der Trainer was zugerufen und dann begriff ich, dass etwas möglich ist. Auf der Zielgeraden sah ich dann die Reaktion meiner Kollegen und ab da war es nur noch schön.» Wie sehr Kreienbühl den Moment geniesst, zeigt die sinnliche Umarmung hinter der Tribüne mit seiner Freundin. Tränen kullern über beide Backen. Der Höhepunkt der Gefühle.
Nun bahnt sich für Röthlin ein neuer Lebensabschnitt an. Der Vater eines Mädchens sieht mit grosser Vorfreude auf das Leben nach dem Spitzensport: «Ich freue mich jetzt einfach der zu werden, der ich bin. Endlich kann ich dann Ferien machen, wann ich will. Und mit der neuen Flexibilität auch mehr mit der Familie unternehmen.»