So schnell ist Tom Lüthi (31) in seiner ganzen Karriere noch nie gefahren. Auf der Zielgeraden zu Mugello beschleunigen mehr als 250 Pferdestärken die MotoGP-Höllenmaschinen auf über 350 km/h.
Das Schlussstück dieser Geraden verläuft über eine leichte Kuppe. Im Blindflug donnern die Piloten darüber hinweg, um dann vor einer Rechtskurve heftig von über 300 auf unter 100 km/h abzubremsen. «Anker werfen» werden solche extremen Bremsmanöver genannt. Tom Lüthi seufzt: «Blindflug? Ja, ein wenig schon.»
Nicht nur der Pilot rast im Blindflug dahin. Sein ganzes Team taumelt seit zwei Wochen blind durch die Saison. Der Teamchef ist gefeuert und nach wie vor nicht ersetzt worden. Eines der professionellsten Teams in der wichtigsten Töff-WM entlässt während der Saison den Chef und versinkt im Chaos. Ein Chaos, das auf den sensiblen Tom Lüthi viel stärker durchschlägt als auf seinen Teamkollegen Franco Morbidelli (in Mugello 8. nach zwei Trainings).
Am ersten Tag zum GP von Italien in Mugello ist der Emmentaler im ersten und im zweiten Training gestürzt. Die Unfälle Nummer sechs und sieben in dieser Saison. Tom Lüthi ist nach einem hoffnungsvollen Saisonstart inzwischen ein langsamer Bruchpilot geworden. Nach zwei Trainings ist er am Freitagabend 24. und zweitletzter und WM-Punkte (ab Platz 15) hat er nach wie vor keine geholt. Tapfer verbreitet er dennoch Optimismus: Mugello sei eine fantastische Strecke und es mache Spass, hier zufahren. Aber natürlich wäre er gerne schneller.
Tom Lüthis Erfahrung, Talent und Professionalität stehen nicht zur Debatte. Die sind unbestritten. Was ist es also? In diesem Geschäft gilt: Folge der Spur von Sex und Geld und du findest die Lösung.
Die Geschichte, deren Opfer Tom Lüthi letztlich ist, geht so: Der tüchtige Teammanager Michael Bartholemy habe letztes Jahr seine Mätresse in der Teambuchhaltung beschäftigt. Die sei aber auch mit einem der Piloten (Sam Lowes) ins Bett gehüpft. Deswegen habe sie der gehörnte Teamchef Ende Saison gefeuert.
Um Rache zu üben, habe die Lady Teambesitzer Graf Marc van der Straten Dokumente zugespielt, die beweisen sollen, dass er vom Teammanager betrogen worden sei. Ein hoch angesehener, eng mit dem Team verbundener Macher spricht gar empört vom Werk einer Schlange. So ist das halt im GP-Zirkus, dem wohl extremsten Macho-Milieu des internationalen Sportes.
Ob wahr oder gut erfunden – Tatsache ist: Vor zwei Wochen hat der Graf Michael Bartholemy völlig überraschend hinausgeworfen und ein Chaos ausgelöst. Denn nun ist kein Chef mehr da, der organisiert, koordiniert und kontrolliert. Die dadurch aufgekommene Unruhe im Team beeinträchtigt das Leistungsvermögen in einem Geschäft, in dem es um hundertprozentige Präzision und Konzentration geht.
Graf Marc van der Straten, ein belgischer Biermilliardär im Adelsstand, mag die Geschichte mit der gefeuerten Buchhalterin und die Lebensweisheit «Cherchez la Femme!» gar nicht dementieren. Er erzählt sie selber. Und er sagt, er sei inzwischen im Besitze aller notwendigen Dokumente, um gegen seinen ungetreuen Teamchef Klage in Belgien und in der Schweiz einzureichen.
Warum in der Schweiz? Weil offenbar über Scheinfirmen in der Schweiz Geld abgezweigt worden sei. «Ich hoffe auf Richter, die nicht blind sind.» Die Auskunft, in der Schweiz seien die Richter nach wie vor teurer als die Anwälte, nimmt er beruhigt zur Kenntnis. Michael Bartholemy beteuert natürlich seine Unschuld. Und eines ist sicher: die Anwälte werden auf den Pulten tanzen. Sie haben zu klagen.
Die Unruhe ist inzwischen so gross, dass Tom Lüthi nicht einmal sicher war, ob sein Team in Mugello überhaupt würde antreten können. Der Teamchef war auch nach seinem Rauswurf immer noch handlungsbefugt und sagte letzte Woche erst einmal die Tests in Barcelona ab. (Tom Lüthi: «Für mich eine Katastrophe»).
Nun erzählt der Graf, Michael Bartholemy habe auch versucht die Teamlaster per Gerichtsbeschluss in Deutschland zu blockieren und so einen Start in Mugello zu verunmöglichen. «Das konnte ich verhindern. Inzwischen habe ich alle Vollmachten auf mich übertragen.» Das habe ihn zwei Millionen gekostet. Er werde nun in den nächsten Tagen einen neuen Teammanager einstellen.
So weit so gut. Tom Lüthis Freund und Manager Daniel M. Epp ist ob der Sache nach wie vor beunruhigt. Die Zukunft seines Fahrers steht auf dem Spiel.
Die meisten Verträge für die Saison 2019 werden bis Ende Juli ausgehandelt. Daniel Epp muss wissen, woran er mit Tom Lüthi ist. Sonst sind die guten Plätze in der «Königsklasse» und in der Moto-2- WM für nächste Saison weg. Wer zu spät kommt, den bestraft auch im Töff-Business das Leben. An eine Zukunft im aktuellen Team mag er nach allem, was in den letzten Tagen passiert ist, nicht mehr glauben.
Aber es gibt Hoffnung. Der Graf sagt nämlich: «Mein Plan ist es, nächste Saison weiterzumachen. Einer unserer beiden MotoGP-Fahrer wird auch 2019 Tom Lüthi sein.»
Dann hält er inne, blickt streng durch seine randlose Brille, fixiert den Chronisten und verkündet mit ruhiger, leiser und eindringlicher Stimme: «Ich bin ganz, ganz nahe daran, meine Leidenschaft für den Motorsport zu verlieren. Wenn hier im Fahrerlager alle einsehen, was Michael Bartholemy angerichtet hat, dann ist alles gut. Sollte aber jemand an meiner Ehrenhaftigkeit zweifeln, dann ist es vorbei und ich steige aus.» Und dann wäre Tom Lüthis Karriere ernsthaft gefährdet. Daniel Epps Sorge ist also nicht ganz unberechtigt.
Auch politisch befinden sich Tom Lüthi und sein Manager im Blindflug. Wenn das Geldspielgesetz vom Volk am 10. Juni angenommen wird, bleibt dem österreichischen Sport-Wetten-Unternehmen «Interwetten» nach elf Jahren nur der Ausstieg aus dem Töffgeschäft. Und dann würde Tom Lüthi mit einem Schlag mehr als die Hälfte seines Sponsor-Budgets verlieren.
Daniel Epp sagt nicht, dass ein «Ja» zum Geldspielgesetz das «Aus» für Tom Lüthis Karriere wäre. «Es gibt immer Lösungen». Aber er würde alle Beziehungen zur Schweiz beenden. Der kluge, sonst zurückhaltende Unternehmer aus dem Baselbiet mit Wohnsitz in Liechtenstein und Prag begründet einen solchen Schritt mit ungewohnt harschen Worten: «Wenn dieses Gesetz angenommen wird, ist es ein Triumph der Korruption.» Die Schweizer Wettanbieter hätten dann ihr Monopol mit Hilfe von willfährigen, lügenhaften Politikerinnen und Politiker zementiert.
Nun können wir verstehen, warum es Tom Lüthi so schwer fällt, sich hundertprozentig aufs Fahren zu konzentrieren. Ohne hundertprozentige Konzentration ist es schwierig, im Sattel zu bleiben und schnell zu sein.