Mathias Flückiger kommt aus dem Oberaargau. Nicht aus dem Emmental. Als Gotthelf-Land wird schweizweit das Emmental wahrgenommen. Doch das ist einer der grossen Irrtümer unserer Kulturgeschichte. So wie früher die Lehrmeinung, die Erde sei eine Scheibe.
Das wahre Gotthelf-Land ist der Oberaargau, der mit dem Aargau nichts zu tun hat. Der Oberaargau ist eine alte geographisch-kulturelle Bezeichnung für das Bernbiet auf der Höhe der Autobahn A1 von Niederbipp bis Burgdorf, das sich südlich vom Jura bis zu den Hügeln des Emmentals hinzieht. Mit Langenthal als Hauptstadt.
Ich will rund um unseren Dichterfürsten Jeremias Gotthelf keinen Skandal heraufbeschwören wie der Schriftsteller Carl Albert Loosli anno 1923. Er behauptete in einem Zeitungsartikel, hinter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf verstecke sich neben dem Pfarrer Albert Bitzius, dem wahren Gotthelf, in Tat und Wahrheit der Bauer Johann Ulrich Geissbühler. Er habe als eigentlicher Verfasser der Gotthelf-Werke zu gelten.
Loosli argumentierte unter anderem, in den Werken Gotthelfs stecke so viel landwirtschaftliches Fachwissen, das ein Pfarrer gar nicht haben könne. Als Bauer habe Geissbühler keine Zeit gehabt, alles zu Papier zu bringen und das habe dann der Pfarrer von Lützelflüh für ihn erledigt.
Innerhalb weniger Wochen erschienen daraufhin über vierhundert Zeitungsartikel, die teils gläubig, teils amüsiert, überwiegend aber zornig und empört reagierten. Unter der Federführung der NZZ wurde Looslis Gotthelf-Satire in eine Schandtat sondergleichen umgedeutet. Die NZZ schrieb: «Man schämt sich recht von Herzensgrund, dass ein fraglos talentvoller und geistreicher Schweizer Schriftsteller ein derartiges Attentat auf die ethisch, nicht nur dichterisch so gewaltig dastehende Persönlichkeit Jeremias Gotthelfs gewagt hat.»
Hier geht es um viel weniger. Aber schon um Grundsätzliches. Es geht um die Selbstverständlichkeit, mit der die Emmentaler Jeremias Gotthelf für sich beanspruchen. Der grosse Dichterfürst, 1797 in Murten geboren, kommt kurz nach Beendigung seines Studiums im Mai 1824 als Vikar (Pfarrhelfer) nach Herzogenbuchsee im Oberaargau. Das ist entscheidend für sein ganzes dichterisches Monumentalwerk.
1829 muss er schon wieder fort aus «Buchsi» und nach einem kurzen Zwischenstopp in Bern kommt er erst 1831 im emmentalischen Lützelflüh am Ort seiner Bestimmung an, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1854 lebt und wirkt. Deshalb wird Jeremias Gotthelf fälschlicherweise als Emmentaler und das Emmental als Gotthelf-Land wahrgenommen und vermarktet.
Am stärksten hat der vergleichsweise kurze Aufenthalt in Herzogenbuchsee Gotthelfs dichterisches Werk und seine literarische DNA geprägt. Der Oberaargau war damals die reichste Bauerngegend mit der leistungsfähigsten Landwirtschaft Europas. Hier lebten die hablichen Bauern, hier standen die stattlichen Höfe, hier spielte die bäuerliche Musik. Und nicht auf den stotzigen Heimetli in den Krächen des Emmentals, das schon damals als eine der ärmsten Gegenden unseres Landes galt.
So berichtet Gotthelf-Biograf Carl Manuel: «Hier, in der landschaftlich schönen Gegend des sogenannten Oberaargaus, lebte er sich völlig in die Sitten, Gebräuche und Anschauungsweise dieses Besonderen Volksschlages ein.» Und Friedrich Seebass, ein anderer Biograf, fährt fort: «Aber ebenso lernte er in Herzogenbuchsee so recht den alteingesessenen Bauernadel kennen mit seiner unantastbaren Ehrbarkeit, dessen Gestalten in seinen späteren Werken anziehend geschildert werden.»
Beispielsweise sollen das Erbeeri-Mareili und das Dürluft-Eisi wirklich gelebt haben. Jenes im Mutzbachgraben-Hüsli, dieses im Weiler Schalun oberhalb Thörigen und die Käserei daselbst soll als Vorbild für «Die Käserei in der Vehfreude» gedient haben. Die Romanfiguren Anne Bäbi Jowäger, Ueli der Knecht und Ueli der Pächter sind ebenfalls Figuren aus dem richtigen Leben des Oberaargaus. Als Vikar amtete Gotthelf fünf Jahre lang auch als Chorgerichtsschreiber. Viele seiner mit deftigen Schimpfwörtern gewürzten Streit- und Schlägerszenen wird er hier erfahren haben. Wie sonst hätte er schreiben können: «Eisi griff nach einem Scheit Holz und wollte die verfluchte More abschlagen.»
Der Oberaargau, die Heimat von Mathias Flückiger, ist also das wahre Gotthelf-Land. Geprägt von sanften Hügeln, die an das «Auenland» aus dem Film «Herr der Ringe» mahnen. Und die Flückigers sind ein alteingesessenes, ehrbares Bauerngeschlecht in diesem Herzland der Schweiz. Den silbernen olympischen Helden dürfen wir als direkten Nachfahren von Ueli & Co. aus den Gotthelf-Dramen bezeichnen.
Es gibt hier auch das Geschlecht der Flückiger, die sich Flükiger schreiben. Also ohne «ck». Der Grund dafür ist nicht mehr ganz ersichtlich. Man erzählt, einst habe sich der Geldadel durch diese Schreibweise von den gewöhnlichen Flückigers zu unterscheiden gesucht. Was durchaus sein kann: Es war vor langer, langer Zeit auch Brauch, dass sich die vornehmen Lehmanns ohne «h» Lemann zu schreiben pflegten und als sogenannt «ungehante» verehrt wurden.
In den Wirtshäusern des Oberaargaus geht übrigens die Legende um, Mathias Flückigers Vater habe seinem Bub nie ein Velo gekauft. Aus Gründen der Sparsamkeit und Bescheidenheit. Das zeigt uns, wie gross die Verehrung und der Respekt im Volk für den neuen olympischen Helden sind: Es gibt über ihn schon zu Lebzeiten Legenden. Und es werden wohl bald noch mehr folgen.
Der Oberaargau hat eine so reiche Sportkultur, dass es erstaunlich ist, dass es erst jetzt wieder zu einer Medaille bei Olympischen Sommerspielen gereicht hat. In erster Linie dominierten in den letzten Jahren der SC Langenthal, Dominique Aegerter und ein paar böse Kranzschwinger die lokalen Schlagzeilen.
Dabei wird gerne vergessen, dass die Sportheldinnen und -helden aus dem Oberaargau bei Welt- und Europameisterschaften bis heute in den olympischen Sportarten nicht weniger als 21 Medaillen geholt haben. Davon fünf in Gold. Und nun also olympisches Silber für Mathias Flückiger. Er ist der 17. olympische Held aus dem Oberaargau – der dritte mit einer Medaille nach Gewichtheber Arthur Reimann (Bronze 1924 im Federgewicht) und Bob-Anschieber Thomas Lamparter (Bronze 2006 im Viererbob).