Tyler, eine mittelgrosse Stadt im US-Bundesstaat Texas mit knapp über 100'000 Einwohnern, fiebert derzeit besonders dem Super Bowl entgegen. Und das, obwohl die nahe gelegenen Dallas Cowboys gar nichts mit dem Endspiel zu tun haben. Nein, Tyler ist die Heimat von Patrick Mahomes, dem Quarterback der Kansas City Chiefs, und fast die ganze Stadt steht hinter dem NFL-Superstar.
Einer, der sich in der Gegend bestens auskennt und mit ihr auch eine emotionale Bindung hat, ist der im Aargau (Niederrohrdorf) wohnhafte Alessandro Cairati. In den letzten sechs Jahren spielte er dort American Football – erst an der Brook Hill Highschool und dann am Tyler Junior College. «Mahomes ist ein Aushängeschild in der Stadt. Seit er bei den Kansas City Chiefs spielt, sieht man überall Fahnen der Franchise und Bilder von ihm. Er ist allgegenwärtig.»
Einst träumte der 21-jährige Cairati davon, selbst in der gleichen Liga wie Mahomes zu spielen, respektive als Defensive Tackle Quarterbacks wie Mahomes übers Feld zu jagen. Und der Schweizer, der bereits mit 18 Jahren eine beachtliche Körperstatur von 1,93 Meter und rund 130 Kilogramm hatte, befand sich auf einem ambitionierten Weg. Nach abgeschlossener Highschool gab es im Jahr 2022 bereits Angebote aus der Division I, der höchsten Spielklasse im College Football. Gute Spieler aus dieser Division schaffen oft den Sprung in den NFL-Draft.
Allerdings wollten die Colleges Cairati auf einer komplett anderen Position (in der Offensive Line) einsetzen, für die er nochmals 10 bis 20 Kilogramm hätte zulegen müssen. Er lehnte dankend ab und entschied sich schlussendlich für das Junior College in Tyler. Zwar war es noch nicht die grosse College-Football-Bühne, aber dennoch ein ambitioniertes Team. Cairati erhoffte sich dadurch, mit guten Leistungen neue Angebote aus der D1 zu bekommen.
Doch bei den Apache Athletics zerbrach der grosse Traum – als erster Schweizer überhaupt in die NFL gedraftet zu werden – urplötzlich. Cairati erlitt in seiner zweiten Saison innert weniger Tage zwei Hirnerschütterungen. Solche Verletzungen sind in dieser Sportart zwar keine Seltenheit, doch der kurze Abstand dazwischen war ausschlaggebend. So erhielt er von der medizinischen Abteilung keine Freigabe mehr. Das Risiko für bleibende Schäden war zu hoch.
Den Rest der Saison musste Cairati von der Tribüne aus mitverfolgen. Und als ob das nicht schon genug bitter gewesen wäre, wurde bei ihm auch noch ein Knorpelschaden im Knie entdeckt. Die Vollkontaktsportart American Football hatte über die Jahre körperlichen Tribut gefordert.
Cairati erinnert sich an die schwierige Zeit zurück: «In den ersten Monaten wollte ich meine Situation überhaupt nicht wahrhaben. Ich hatte grosse Mühe damit, zu akzeptieren, dass nun so schnell alles vorbei sein soll. Oft rief ich zu Hause bei meiner Mutter an, musste meine Emotionen abladen und hatte auch Nervenzusammenbrüche.» Er führt aus: «Ich hatte das Gefühl, dass all die Jahre, in denen ich viel in meinen Körper und in den Sport investiert habe, für nichts gewesen sind.»
Doch die Zeit heilt alle Wunden – so auch bei Cairati. Nach der Saison entschied er sich, ein Finanzstudium an der Purdue University, die zu den renommiertesten Universitäten in den USA zählt, zu beginnen. Riskante Tackles auf dem Platz wurden durch Risikostreuung und Portfoliomanagement am Schreibtisch ersetzt.
Cairatis Welt hat sich komplett verändert. «Es brauchte eine Zeit, um mein sportliches Schicksal zu akzeptieren, aber irgendwann begriff ich, dass ich nicht im Selbstmitleid versinken möchte. Der Football hat mir einiges mit auf den Weg gegeben. Er hat mir Disziplin beigebracht, und ich habe durch ihn auch grosse Willenskraft und Ehrgeiz entwickelt. Für meine berufliche Zukunft ist das ein grosser Vorteil.»
Seit vergangenem Sommer ist Cairati zurück in der Schweiz. Sein Studium absolviert er online, der Football ist aus seinem Leben verschwunden. Es gab zwar noch ein paar europäische Angebote, beispielsweise aus der semiprofessionellen European League of Football (ELF), die im Pay-TV übertragen wird. Doch der ehemalige D-Liner sagte ab.
Auch die NFL verfolgt er nur noch am Rande. Eine Art Selbstschutz? «Vielleicht brauche ich jetzt tatsächlich einfach ein bisschen Abstand, sonst studiere ich zu viel an der Vergangenheit herum. Ich widme mich nun anderen beruflichen Projekten, das Kapitel Football ist für mich vorerst abgeschlossen.»
Den Super Bowl in der Nacht auf Montag wird er sich aber natürlich nicht entgehen lassen. Und Überraschung: Cairati drückt nicht, wie in seiner alten Heimat Tyler üblich, Mahomes und den Chiefs die Daumen. «Ich war nie ein Fan der Chiefs. Ausserdem ist es langweilig, wenn ein Team über Jahre so dominant ist.» Er fügt an: «Es hat schon wieder ein bisschen was von dieser früheren Dynastie der New England Patriots. Ähnlich wie damals fallen auch die Schiedsrichterentscheide häufig zugunsten der Chiefs aus. Deshalb hoffe ich auf einen Sieg der Philadelphia Eagles.» (riz/aargauerzeitung.ch)