In der Nacht auf Freitag ist es endlich so weit: Die besten Talente im American Football finden heraus, wo sie ab der nächsten Saison spielen werden. Dann beginnt der Draft der NFL, ein Highlight nicht nur für die College-Stars, sondern auch die Fans. Spannend wird es in diesem Jahr aber frühestens ab dem 2. Pick, denn eines steht schon seit Langem so gut wie fest: An erster Stelle werden die Chicago Bears Caleb Williams wählen.
Der 22-Jährige galt schon nach seiner Zeit an der Highschool als riesiges Talent und etablierte sich auch am College schnell als einer der besten Quarterbacks. Zwar sass er bei Oklahoma zu Beginn noch auf der Bank, konnte dann aber als Starter überzeugen und folgte nach der ersten College-Saison seinem Trainer Lincoln Riley an die University of Southern California (USC). Riley trainierte unter anderem Baker Mayfield, Kyler Murray sowie Jalen Hurts und gilt als Quarterback-Flüsterer.
An der USC entwickelte sich Williams auch dank Riley weiter und gewann 2022 die Heisman Trophy für den besten Football-Studenten der USA. Mit 42 geworfenen und zehn erlaufenen Touchdowns bei nur fünf Interceptions spielte Williams eine Fabelsaison. Sehr wahrscheinlich wäre er schon nach der letzten Saison der begehrteste Quarterback-Jungstar gewesen, doch müssen Spieler, die sich für den NFL-Draft anmelden, die Highschool seit mindestens drei Jahren abgeschlossen haben.
Deshalb wird Williams erst in diesem Jahr zum Profi, nachdem er mit 30 Touchdown-Pässen und elf Touchdown-Läufen bei erneut nur fünf Interceptions eine weitere starke Saison hingelegt hat. Mit dem Team-Erfolg wollte es hingegen nicht so recht klappen, die USC verpasste zweimal die Playoffs der besten vier Teams, weil es einmal 11 von 14 und einmal nur 8 von 13 Partien gewinnen konnte. Dafür ist aber nur bedingt Williams verantwortlich, da das College aus Los Angeles vom Talent-Level nicht mit den Top-Teams aus Alabama oder Michigan mithalten kann.
Experten und Scouts schwärmen gleichermassen von Williams, der als «fabelhafter Spielmacher mit unübertroffenen Improvisationsfähigkeiten» (ESPN-Analyst Mel Kiper) glänzt. Darüber hinaus seien «die Stärke seines Arms, sein Laufvermögen sowie die Übersicht und Sicherheit auf dem Feld auf einem sehr hohen Level» (Draft-Experte Matt Miller). Ein anonymer NFL-Scout ist sich sicher, dass Williams für das Team, das ihn bekommt, viel verändern kann. Darauf hoffen die Chicago Bears und ihre Fans nun.
Die einst so erfolgreiche Franchise – vor Einführung des Super Bowls gewann sie zwischen 1921 und 1963 acht Titel – erreichte in den letzten drei Saisons nie die Playoffs und wartet gar seit 2010 auf einen Sieg in der entscheidenden Saisonphase. Das soll sich mit Williams ändern.
Um dem künftigen Stamm-Quarterback das Leben so einfach wie möglich zu machen, wurden in Keenan Allen ein weiterer starker Wide Receiver zusätzlich zu D. J. Moore sowie Offensivkoordinator Shane Waldron aus Seattle verpflichtet. Ausserdem machte General Manager Ryan Poles Platz für Williams, indem er Justin Fields per Trade nach Pittsburgh schickte. Der 25-jährige Quarterback galt ebenfalls als grosses Talent, doch fehlte ihm in seinen bisher drei Profi-Saisons die Konstanz.
Auch bei Williams ist natürlich keineswegs gesichert, dass er in der NFL erfolgreich sein wird. Doch sorgen nicht nur seine Qualitäten für Hoffnung, dass der 22-Jährige die hohen Erwartungen erfüllen kann. Williams überzeugt auch als Anführer, der bei seinen Mitspielern überaus beliebt ist. Dies sei bedeutend, wie der ehemalige Profi und heutige Experte Bucky Brooks zu The Athletic sagte: «Der Quarterback muss verschiedene Typen von Leuten zu einem Team zusammenbringen.» Dass die Freude seiner Teamkollegen von der USC offensichtlich war, nachdem Williams bei seinem Schautraining vor NFL-Verantwortlichen und -Scouts mit seiner Präzision und der unangestrengten Wurftechnik überzeugt hatte, sei daher wichtig.
Zudem dürfte Williams' Selbstvertrauen ein entscheidender Faktor und ein Plus für die Entscheidungsträger bei den Bears sein. So kann er auch mit unsachlicher Kritik – die in der NFL nicht selten ist – gut umgehen. Als einige Wochen vor dem Draft ein Video in den sozialen Medien zirkulierte, auf dem viele pink lackierte Fingernägel sowie Lipgloss bei Williams vermuteten, liessen die oft homophoben oder transfeindlichen Kommentare nicht auf sich warten. Williams nahm sich das aber nicht zu Herzen.
TRENDING: Top #NFL prospect Caleb Williams at last night's game.
— MLFootball (@_MLFootball) March 26, 2024
People are angry about his pink cellphone case
pic.twitter.com/cUbWX4x7ql
Wenige Tage später zeigte Williams sein pinkes Handy und die Fingernägel, die gar nicht lackiert waren. Zu den Lippen sagte er: «Die sind einfach pink, eure Frauen lieben es.» So drehte er den Spiess um und liess all jene auflaufen, die es als ernsthaften Kritikpunkt ansahen, wenn ein Quarterback ein pinkes Handy besitzt oder sich die Fingernägel lackiert. Für Williams ist das nämlich lediglich «ein weiterer Weg, mich auszudrücken», wie er in der Vergangenheit erzählte. «Es ist mir egal, was die Leute darüber sagen.»
Schon öfters lief er mit lackierten Fingernägeln auf. Meist standen dort lediglich dem Gegner angepasste Ausdrücke wie «F*ck Utah», doch waren sie auch mal bunt angemalt. Einmal schrieb er sich zudem die Nummer des amerikanischen Pendants zur dargebotenen Hand darauf, um auf Möglichkeiten zur Hilfe bei mentalen Problemen oder Suizidgedanken aufmerksam zu machen. Mit seinen Fingernägeln will Williams auch seine Mutter repräsentieren, die Nagelpflegerin ist. Ein weiterer Grund: «Niemand sonst macht es. Ich mag es, neue Dinge zu tun und ein Trendsetter zu sein.»
Die Entscheidung der Chicago Bears dürfte dies kaum beeinflussen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass Williams während der letzten Saison nach einer Niederlage an der Seitenlinie geweint hat – auch dafür musste sich der junge Mann Kritik anhören.
Nach dem 1. Pick, den die Bears übrigens im Tausch für das allererste Auswahlrecht im letztjährigen Draft von Carolina erhalten haben, wird es schon deutlich interessanter.
Zwar galt Drake Maye lange als klar zweitgrösstes Talent – einige sahen ihn gar auf einem Level mit Williams – doch häuften sich in den letzten Wochen Berichte, dass die Washington Commanders vielleicht doch lieber den flinken und wendigen Jayden Daniels auswählen würden. Die Buchmacher sehen Daniels mittlerweile gar als Favorit für den 2. Pick, obwohl ihn viele Experten aufgrund seines schmächtigen Körperbaus kritisch sehen. Weil mit New England auch an dritter Stelle ein Team wählen darf, das einen Quarterback braucht, könnten die Top-3-Picks alle auf derselben Position spielen.
Mit J. J. McCarthy, der Michigan zum College-Titel führte, dabei aber von seinen starken Mitspielern profitierte, könnte ein weiterer Quarterback ein Top-10- oder gar Top-5-Pick werden. Vor allem Minnesota wird immer wieder als Kandidat ins Spiel gebracht. Dass mit Michael Penix Jr. ein weiterer Quarterback in der 1. Runde ausgewählt wird, scheint ebenfalls nicht unwahrscheinlich. Bo Nix wird hingegen wohl frühestens in der 2. Runde, die dann in der Nacht auf Samstag stattfindet, gedraftet werden.