Die «härteste» Frage kam aus England. Der britische Journalist erinnerte Thomas Bach daran, dass ihm Russland seit seinen ersten Olympischen Spielen als Präsident 2014 in Sotschi auf der Nase herumtanze, sei es mit Dopingbetrug, der politischen Instrumentalisierung des Sportes oder mit dem Bruch des Olympischen Friedens:
Bach betonte mit gewohnt stoischer Ruhe, dass man durchaus harte Sanktionen gegen Russland verhängt habe, dass man aber nicht Athleten für die Taten der Regierungen bestrafen dürfe. «Das wünscht sich keine Sportlerin und kein Sportler aus irgendeinem Land.»
Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) lud ein Jahr vor den Sommerspielen zu einem Roundtable-Gespräch mit Medienvertretern aus aller Welt. Während der 69-jährige Deutsche in seinen einleitenden Worten die Geschlechtergleichheit sowie die Nachhaltigkeit als herausragende Elemente von Paris 2024 lobte, interessierten sich die Journalisten fast ausschliesslich für die Frage, ob russische und belarussische Athletinnen und Athleten in Paris starten dürfen.
Bach betonte, dass man diese Entscheidung «mit aller Sorgfalt» treffen werde und sich nicht auf einen verbindlichen Zeitplan festlegen wolle. Der frühere Spitzenfechter sagte aber einmal mehr, dass er sich von den Regierungen wünsche, die Idee der Spiele als «friedlicher Wettkampf aller Nationen» zu respektieren und sie nicht als Waffe der Politik zu missbrauchen. «Wir tun alles, um diese Mission zu erfüllen», so Bach.
Die Idee, dass sich die Jugend der Welt lieber auf dem Sportplatz duelliert, anstatt sich auf dem Schlachtfeld zu bekriegen, stammt vom Franzosen Pierre de Coubertin und gilt als Leitlinie der Gründung des IOC im Jahr 1894. Coubertins Vision war es, jenseits der nationalen Interessen für eine internationale Verständigung einzutreten. Bach klammert sich bei der Russland-Frage an diese Idee.
Zugleich gab das IOC zu, in einem riesigen Spannungsfeld zu stecken: «Wir sind mit zwei unvereinbaren Positionen konfrontiert. Die russische Seite möchte, dass das IOC den Krieg ignoriert. Die ukrainische Seite möchte, dass wir jeden mit einem russischen und belarussischen Pass vollständig isolieren. Beide Positionen stehen im diametralen Widerspruch zum Auftrag des IOC und zur Olympischen Charta.»
Offiziell empfiehlt das IOC, dass Russen als neutrale Athleten an internationalen Wettkämpfen antreten dürfen, wenn sie den Krieg nicht aktiv unterstützen und nicht beim Militär oder anderen Sicherheitskräften angestellt sind. Ausgeschlossen sind Teams und Staffeln. Die Umsetzung der Empfehlung liegt bei den einzelnen Sportarten, was zu diametral unterschiedlichen Situationen führt.
Leichtathletik und Pferdesport verbieten die Teilnahme weiterhin, der Turnweltverband entscheidet diesen Mittwoch. Beim Fechten hat der Weltverband Ja, der europäische Kontinentalverband hingegen Nein gesagt. Auch von den sportartenübergreifenden Europaspielen Ende Juni in Polen waren Russland und Belarus ausgeschlossen.
Während sich das IOC auf eine weltweite Mehrheit von Athleten, Verbänden und Regierungen beruft, die keine Diskriminierung von Sportlern aufgrund ihres Passes wünschen und das Vorgehen des IOC unterstützen, haben jüngst 41 westliche Staaten – darunter auch die Schweiz – in einer Konferenz-Erklärung gefordert, dass Russland nicht ermöglicht werden sollte, mit dem Sport den Krieg zu legitimieren. Der ukrainische Teilnehmer an dieser Veranstaltung gab die Anzahl der im Krieg getöteten ukrainischen Spitzensportler und Trainer mit 317 an.