Um den Aufstieg von Beat Feuz vom Bauernbuben zum olympischen Helden zu verstehen, müssen wir wieder einmal dorthin gehen, wo er aufgewachsen ist: ins Schangnau.
Oberflächliche Zeitgenossen mögen nun einwenden, die Schangnauer seien Emmentaler und über dieses Volk sei von den grossen Dichterfürsten längst alles geschrieben und es sei besungen worden. Doch das stimmt ganz und gar nicht.
Der Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Emmentaler und einem Schangnauer ist grösser als zwischen einem Zürcher Goldküsten-Bewohner und einem Emmentaler.
Wie wir wissen, liegt ja schon Langnau tief im Emmental. Doch die Langnauer sagen: «Mir gö is Schangnou hingere» (Wir gehen nach hinten ins Schangnau). Von Langnau bis ins Schangnau ist es ziemlich genau gleich weit wie von Langnau bis auf den Bundesplatz in Bern.
Schangnau, eine Gemeinde mit rund tausend Einwohnern, etwa 1000 Meter über Meer, ist nicht nur tiefes Emmental. Es ist auch uraltes Küherland. Die Küher waren die Cowboys der Schweiz. Stolz, schlau, mutig und von einem unbändigen Freiheitsdrang beseelt. Um das Wesen und Wirken des Schweizer Skihelden Feuz zu verstehen, lohnt sich ein Blick in dieses Land der Schweizer Cowboys.
Das Schangnau breitet sich am Fusse des Berges Hohgant aus. Der Hohgant ist der gut zweitausend Meter hohe, neun Kilometer lange und zwei Kilometer breite Sperr-Riegel, der das Emmental vom Berner Oberland trennt. Hier entspringt die Emme. Der Fluss, der dem ganzen wunderlichen Land im Herzen der Schweiz den Namen gegeben hat.
Die Heimat von Beat Feuz ist ein dunkles, schattiges, geheimnisvolles, hügliges Land. «Wanderer, verweile hier. Studiere die Geschichte der alten Geschlechter.» Ein Abend in einem der Gasthöfe kann lehrreicher sein als eine Hochschulvorlesung über Volkskunde. Gar Grusliges wird einem zu später Stund erzählt. Beispielsweise, dass es Schnee geben wird, wenn die Katzen ein und aus gehen – dort, wo es kein Loch in der Mauer hat. Dieses Jahr gehen die Katzen nicht durch die Mauern. Es will ja keinen Schnee geben.
Der Volksglauben ist bei den Alten unerschöpflich, die Sprache urchig, gemütstief und bilderreich. Wenn die Zürcher knurren: «Lass mich in Ruhe!», sagen die alten Schangnauer: «Tue mer nid geng Schwiere uf em Grind spitze!» Wer im Schangnau den Holzschuh über den Regenbogen zu werfen vermag, dem fällt Gold vom Himmel. Wer den Stall betritt, der vergesse niemals «Glück im Stall» zu wünschen, und jeder Bauer weiss es zu schätzen.
Wer am Tage hinaufblickt zu den Felsen des Hohgant, zu den Runen des Kreuzgütsch, wird auf einmal eine Fratze erkennen. Halb tierisch, halb menschlich, die rätselhaft, ja dämonisch auf die Bewohner des Tales herabblickt. Kein Wunder, dass in einer so geheimnisvollen Gegend Schwefelquellen aus dem Erdinnern dringen.
Im hintersten Winkel dieses gewaltigen Ringes der Flühe und Höger ist 1835 bei einer solchen Quelle das «Kemmeriboden-Bad» gebaut worden. Heute wird das Gasthaus nach den modernsten Lehren der Gastronomie mit grossem Erfolg gemanagt. Wochenlang dringt im Winter kein Sonnenstrahl bis hierher durch, und einst mussten vierzehn Pferde eingespannt werden, um den Schneepflug zu ziehen.
In diesem Talkessel stauen sich oft die Wetter, Wolken türmen sich auf und gewaltige Gewitter entladen sich. Dann können in wenigen Stunden bis zu 100 Liter Regen pro Quadratmeter vom Himmel herabstürzen. Die Emme ist bekannt dafür, dass es bei Gewittern im Quellgebiet, im Schangnau hinten, zu richtigen Flutwellen kommen kann. Die Erzählung «Die Wassernot im Emmental» von Jeremias Gotthelf, ein Stück Weltliteratur, schildert eines dieser Hochwasser im 19. Jahrhundert. «Da zerriss im wütenden Kampfe der ungeheure Wolkenschoss; losgelassen wurden die Wassermassen in ihren luftigen Kammern, Wassermeere stürzten über die trotzigen Berge her. Wer einen Schauplatz gesehen hat, wo die Elemente ungezähmt wüteten, wird ihn nie vergessen.» Ob solchen Naturgewalten wird keiner hochmütig.
Und die Helden aus alter Zeit werden in Ehren gehalten. Vor Beat Feuz war Matthyas Wittwer (1814–1858), genannt «der starke Thys», der berühmteste Schangnauer. Er krönte seine Laufbahn 1848, als er auf der Schanze zu Bern obenaus schwang und damit den damals inoffiziellen Titel eines Schwingerkönigs errang. Es wird erzählt, er habe mit seinen Schultern 1200 Kilo vom Boden aufgehoben. Sein Kopf soll so hart gewesen sein, dass man darauf Holz spalten konnte.
Wir ahnen: In 200 Jahren wird hier Beat Feuz zur Legende verklärt sein. Und man wird dem Fremden erzählen, er sei so schnell die Hänge der Schneeberge hinabgerast, dass er einer Lawine entkommen sei.
Die berühmten Familien im Schangnau stammen aus Küherdynastien. Das Wesen und Wirken der Schangnauer ist stark durch diese Kultur geprägt. Die Kultur der Küher entstand im 16. Jahrhundert und ist damit älter als die von Amerikas Cowboys. Die Schangnauer sind also die wahren Cowboys. Nicht die Amerikaner. Und es ist auch logisch, dass zuerst gerade im Schangnau seit dem Ende des letzten Jahrhunderts mit Erfolg Wasserbüffel als Nutzvieh gehalten werden – während im Flachland über den Milchpreis gejammert wird.
Im Emmental gilt seit Anbeginn der Zeiten: Entgegen der uralten biblischen Ordnung der Erstgeburtserbfolge erbt im Emmental der jüngste und nicht der älteste Sohn den Hof. Der Erstgeborene hat keine Privilegien. Und anders als in vielen anderen Kulturen müssen die Geschwister nicht ausbezahlt werden. So ist es gelungen, die grossen Bauernhöfe intakt zu halten. Sie mussten nicht aufgeteilt werden. Der Hof geht aus gutem Grund an den Jüngsten. Denn wenn der Älteste den Hof übernehmen könnte, ist der Vater noch lange nicht bereit, sich ins Stöckli in den Ruhestand zurückzuziehen.
Ältere Bauernsöhne, die nicht wie die jüngsten Hoferben wurden, konnten als Knechte bleiben (was die wenigsten wollten) und es war lange Zeit auch noch nicht möglich, Industriearbeiter zu werden und in die urbanen Zentren auszuwandern. Sie erhielten als Abfindung meistens ein paar Kühe und wurden Küher (Cowboys). Sie mieteten oder kauften weiteres Rindvieh und sömmerten es auf eigenen oder gepachteten Alpen. Im Winter zogen die Küher mit ihrer Herde und Habe ins Unterland, wo sie von sesshaften Bauern Ställe mieteten, Heu kauften und ihre im Sommer produzierten Milchprodukte – Käse, Butter, Nidel – verkauften. Manch einer ist dabei reich und berühmt geworden.
Die Schangnauer Cowboykultur erlebte den Höhepunkt im 18. Jahrhundert und ist im 20. Jahrhundert durch die Förderung der Graswirtschaft im Unterland und der Talkäsereien untergegangen. Das Herumreisen und Verhandeln zwecks Verkauf ihrer Produkte gab den Kühern aus dem Schangnau einen weiteren Horizont, als ihn die damaligen sesshaften, spiessigen Bauern unten im Talkessel hatten. Es liess sie geistig beweglicher, schlauer, geschäftstüchtiger, selbstsicherer und cooler werden. Sie waren lebensfroh, aufmüpfig, stolz, erfolgreich, keine Puritaner, entzogen sich den strengen Gesetzen der bernischen Obrigkeit, kamen viel zu wenig in die Predigt und vergnügten sich lieber bei Tanzveranstaltungen und Schwingfesten.
Noch heute gelten die Bauern im Schangnau hinten, die Nachfahren der Küher, als pfiffiger und gewiefter als die seit Anbeginn der Zeiten sesshaften Berufskollegen im Flachland. So ist es nur logisch, dass sich ein Schangnauer wie Beat Feuz sehr wohl in der grossen weiten Welt zurechtfindet, durchsetzt und es zu höchstem Ruhm bringt.
Nun wissen wir also, woher Beat Feuz kommt, und wir können das Wesen und Wirken des Königs der Berge ein wenig besser verstehen. Sein Vater Hans, Bauer und Betriebsleiter des Skiliftes im Bumbach am Fusse des Hohgant, war bereits ein begabter Skifahrer, und wäre er gefordert und gefördert worden wie sein einziger Bub – er wäre wohl der erste Skistar aus dem Emmental geworden.
Hans erkennt das Talent seines Buben, verzichtet auf den Ausbau seines Heimetli und setzt auf die Förderung des kleinen Beat. Er ahnt: Aus seinem Sohn wird sowieso kein Bauer. Und er täuscht sich nicht. Die Legende geht, Beat Feuz habe nie genau gewusst, wie viele Kühe daheim im Stall stehen.
Beat Feuz wird auch mit olympischem Gold nie ein Sonnyboy wie Bernhard Russi. Er ist kein trinkfester Nonkonformist wie Roland Collombin, der einstige Rivale von Bernhard Russi. Eher eine wunderliche Kombination aus Russi und Collombin: schlau und geschäftstüchtig wie Russi, aber bodenständiger. Mutig wie Collombin. Aber besonnener.
Beat Feuz, der Emmentaler, ist mit dem olympischen Triumph von Peking 2022 der grösste Schweizer Abfahrer der Geschichte. Grösser, erfolgreicher, mit mehr Medaillen und Siegen als Bernhard Russi, die Lichtgestalt der Berge.
Nun könnte es ja sein, dass der Cowboy aus dem Schangnau ob dem grossen Ruhm und guten Einkommen ein wenig die Bodenhaftung verlieren könnte. Doch das ist nicht passiert und wird nie passieren. Er ruht in sich selbst. Er ist und bleibt ein Schangnauer, ein Ur-Emmentaler.
Und wer ist mal in die Heimat von Beat verirrt, sollte unbedingt ins Kemmeribodenbad.