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Eine Hockey-Analyse in einem einzigen Satz: Tränen lügen nicht

epa09762725 Alina Marti of Switzerland leaves after the Women's Ice Hockey bronze medal match between Finland and Switzerland at the Beijing 2022 Olympic Games, Beijing, China, 16 February 2022.  ...
Grosse Enttäuschung bei Alina Marti nach der Niederlage im Spiel um die Bronze-Medaille gegen Finnland.Bild: keystone
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Eine Hockey-Analyse in einem einzigen Satz: Tränen lügen nicht

Die Hockey-Männer und Hockey-Frauen scheitern in Peking am gleichen Tag gegen den gleichen Gegner: Finnland. Ein Unterschied zeigt, wie beide hätten siegen können.
17.02.2022, 02:3717.02.2022, 12:22
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Mit der Schlusssirene ist eine Partie noch nicht zu Ende. Auf dem Weg vom Eisfeld zurück in die Kabine laufen die Männer, Frauen und Coaches durch die sogenannte Mixed Zone.

Dabei handelt es sich um den Bereich unten im Stadion auf der Höhe des Eisfeldes, in dem die Chronistinnen und Chronisten direkt mit den Sportlerinnen und Sportlern zusammentreffen. Um möglichst zeitnah zum Spiel möglichst erlebnisfrische und gefühlsechte Aussagen zu erhaschen. Hier in Peking ist diese Zone mit Abschrankungen so ausgestaltet, dass ein Pandemie-Sicherheitsabstand eingehalten wird. Und alle tragen Maske. Auch die Spielerinnen und Spieler. Das direkte Gespräch ist jedoch möglich.

Auf den ersten Blick denkt der Laie: Wow, das ist eine Zone der Wahrheit, der Erkenntnis und der Erleuchtung! Ehrliche, unzensurierte Aussagen gleich nach dem Spiel!

So ist es aber nicht ganz. Die Heldinnen und Helden werden im Umgang mit Medien geschult. Die Aussagen sind zwar authentisch. Aber heute wird viel geredet und nichts gesagt. Da auch die Chronistinnen und Chronisten stets die gleichen Fragen stellen, ist es nahezu ausgeschlossen, dass jemand mal eine kernige Aussage macht, aus der sich eine Polemik drechseln lässt.

Switzerland's forward Lara Stalder #7 and Switzerland's forward Alina Mueller, comfort each after losing the women's ice hockey Bronze Medal game between Finland and Switzerland at the  ...
Die Schweizer Spielerinnen zeigen ihre Enttäuschung.Bild: keystone

So heisst es eben: «Natürlich sind wir nicht zufrieden.» – «Aber es war nicht alles schlecht». «Wir nehmen Spiel für Spiel.» Und so weiter und so fort.

Nach einem anstrengenden Spiel, noch aufgewühlt von Emotionen sachlich bleiben und sich nicht in ein Fettnäpfchen locken lassen: eine Meisterleistung. Politikerinnen und Politiker sollten sich hin und wieder in eine solche Mixed Zone begeben. Sie könnten viel lernen.

Neue Erkenntnisse und Wahrheiten hat der Chronist nach den Partien der Männer und Frauen gegen Finnland in der Mixed Zone also nicht gehört.

Aber der Mensch spricht nicht nur mit Worten. Deshalb gibt es nach diesem grossen, dramatischen Tag des Scheiterns in Peking doch Erkenntnisse und Wahrheiten aus der Mixed-Zone.

Die Frauen und die Männer hatten beide das gleiche Problem: Die offensive Wirkungslosigkeit. Die Männer verloren bei 34:23 Torschüssen 1:5. Die Frauen bei 47:15 Torschüssen 0:4.

Aber es gibt einen grossen Unterschied. Die Frauen haben nur das Duo Lara Stalder/Alina Müller, das auf höchstem Niveau in der Offensive tanzen kann. An einem guten Abend gehören sie zu den Besten der Welt. Also haben sich die Finninnen darauf konzentriert, Lara Stalder und Alina Müller zu neutralisieren.

Manndeckung (das Wort für diese taktische Variante kommt aus dem Fussball) funktioniert auf rutschigem Eis nicht so gut wie auf griffigem, grünem Rasen. Aber es ist möglich, den Wirkungskreis von zwei Spielerinnen einzuengen: Die Pässe abfangen («den Strom abstellen»), hartnäckig auf dem ganzen Eisfeld verfolgen und stören und aus der Konzentration bringen, darauf achten, dass sie keine freien Räume vorfinden.

Lara Stalder und Alina Müller sind auf diese Weise von den Finninnen aus dem Spiel genommen worden. Das Team ist zu wenig ausgeglichen. Cheftrainer Colin Muller hat einfach keine Spielerinnen, die gut genug sind, um offensiv dann die Differenz zu machen, wenn Lara Stalder und Alina Müller daran gehindert werden, ihr Talent zu entfalten. Alle kämpften, alle gaben alles – aber den Puck brachten sie nicht ins Tor.

Manndeckung ist im Spiel der Männer keine taktische Variante. Es reicht nicht, einen oder zwei Spieler zu neutralisieren. Bei den Schweizern konzentriert sich die offensive Feuerkraft nicht auf ein Duo. Sie haben einen vielstimmigen offensiven Chor: Grégory Hofmann, Gaëtan Haas, Simon Moser, Denis Malgin, Sven Andrighetto, Christoph Bertschy, Enzo Corvy und Andres Ambühl – die Aufzählung ist nicht einmal vollständig – sind alle dazu in der Lage, auf höchstem internationalem Niveau ein offensives Lied vorzutragen. Einige haben sogar schon in der National Hockey League (NHL) gespielt. Bei weitem genug Talent also. Aber nur ein Tor aus 34 Torschüssen.

In der Mixed Zone finden wir eine Antwort auf die Frage, warum das so ist.

Nach dem Ausscheiden steht Alina Müller Red und Antwort. Sie erzählt, wie sehr sie enttäuscht ist. Wie sehr sie ihren Mitspielerinnen die Medaille gegönnt hätte.

Sie spricht von den Opfern, die alle gebracht haben. Die Ferien, die Freizeit fürs Hockey hergegeben, den Alltag mit der beruflichen Belastung rund ums Hockey geplant. So viele Trainings. So viel Verzicht. Und am Ende doch so knapp vor dem Ziel gescheitert. Und dann, mitten in den Ausführungen hält sie inne und bricht in Tränen aus.

Sie ist nicht die Einzige, die nach diesem dramatischen Spiel Tränen in den Augen hat. Es sind Tränen, die zeigen, mit welcher Hingabe, mit welcher Leidenschaft eine verschworene Gruppe von jungen Frauen auf ein grosses Ziel hingearbeitet hat. Nicht für Geld und praktisch unbemerkt von der grossen Öffentlichkeit. Sie haben alles, alles, alles gegeben und sind doch so knapp gescheitert.

Keiner der Schweizer nach dem Scheitern gegen Finnland geweint. Das ist eigentlich logisch. Hockey-Männer sind harte Jungs. Sie weinen nicht. Und doch können sie ihre Frustration zeigen. Es ist schon vorgekommen, dass einer nach einer bitteren Niederlage fluchend durch die Mixed Zone der Kabine zustrebte oder sogar den Stock zertrümmert hat.

Nun gut, es gehört sich nicht, auf der Olympischen Bühne zu fluchen oder gar den Unmut mit «Stockarbeit» zu zeigen. Und dazu kommt: Die Männer sind alle Berufsspieler. Sie treten viel öfter auf der nationalen oder internationalen Bühne auf. Sie feiern mehr Siege und erdulden öfters mal eine bittere Niederlage als die Frauen. Und jeder einzelne verdient in einem Monat mit dem Hockey mehr Geld als eine Frau während ihrer ganzen Karriere. Sie haben die Emotionen nach dem Spiel im Griff.

epa09758760 Yannick Weber of Switzerland (C) in action during the Men's Ice Hockey Qualification Play-off match between Switzerland and Czech Republic at the Beijing 2022 Olympic Games, Beijing,  ...
Die Männer sind an Tschechien gescheitert.Bild: keystone

Und doch: Ein bisschen mehr Zorn und Emotionen, Zeichen der Frustration hatte der Chronist nach diesem Scheitern gegen Finnland erwartet. Die Medaille war doch so nah! Es wäre doch so viel drin gelegen! Es war auch wegen der Absenz der NHL-Stars eine einmalige Chance. Die Deutschen hatten diese Ausgangslage vor vier Jahren genutzt und hatten den Final erreicht. Das wäre hier für die Schweizer auch möglich gewesen.

Die Frauen und die Männer sind am gleichen Tag gegen Finnland gescheitert. Warum? Wir können ein wenig überspitzt und polemisch die Antwort so formulieren:

Die Männer hätten mit der Hingabe und Leidenschaft der Frauen die Finnen besiegt, den Halbfinal erreicht und mindestens das Bronze-Spiel gewonnen. Die erste Hockey-Medaille seit 1948.

Die Frauen hätten mit so vielen talentierten Offensivspielerinnen in ihren Reihen wie die Männer das Bronze-Spiel gewonnen und die erste Olympische Medaille nach 2014 geholt.

Die Frauen haben hier in Peking zwei Spiele gewonnen. Doppelt so viele wie die Männer, die «nur» Tschechien besiegt haben.

Tränen lügen nicht.

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