«Unmenschlich, aber legal» – so leiden Buschauffeure in der Schweiz
Es ist 11 Uhr an einem Mittwoch in der Zürcher Agglo und Buschauffeur Silvan* denkt an seine Frau und seine beiden Kinder. So wie er es während seiner Fahrten immer tut. Er malt sich aus, was er mit der Familie unternehmen will, wenn er freihat. Es sind Tagträume, die selten in Erfüllung gehen.
«An meinem freien Tag habe ich gar keine Energie für meine Familie», sagt Silvan. Er zählt auf: «Du arbeitest sechs Tage am Stück Abenddienst. Dann hast du einen Tag frei, an dem du nichts tun magst.» An solchen Tagen möchte Silvan nur seine Ruhe. Schlafen. Energie tanken für die nächste 6-Tage-Woche. Wenn er Pech hat: Frühdienst. «Tag-Nacht-Rhythmus, was ist das? Freizeit, Hobbys, was ist das?», fragt Silvan und lacht bitter.
«Mit der VBG läuft’s glatt.» Diesen Slogan hat der Verkehrsverbund Glattal (VBG) auf ein Plakat direkt hinter Silvans Fahrerkabine gedruckt. Das Sätzli wirkt beinahe zynisch. Denn für Silvan läuft es nicht «glatt». Während er fährt, ändert die Position seiner Hände auf dem Lenkrad alle paar Sekunden. Mal hält er das Steuer oben, mal unten, mal nur mit der rechten, dann nur mit der linken Hand, um sich mit der anderen den Nacken oder den Rücken zu reiben. Weil er Schmerzen hat? «Natürlich. Die haben wir alle», sagt Silvan.
Es stimmt. Gemäss einer Umfrage der Gewerkschaften SEV, Syndicom, VPOD und Unisanté von 2022 leidet über die Hälfte aller Busfahrenden in der Schweiz unter Muskelschmerzen im Schulter- oder Nackenbereich und unter übermässiger Erschöpfung. Jeder Zweite berichtet von Rückenschmerzen und Schlafstörungen. 43 Prozent leiden unter Stress. Doch körperliche Beschwerden sind nur eines von vielen Problemen, welche an den Kräften der Buschauffeurinnen und -chauffeure im öffentlichen Verkehr zehren.
14 Stunden Dienst, aber nur 9 bezahlt
Während der Fahrt gleitet Silvans Hand immer wieder in einen raschelnden Papiersack, der neben ihm platziert ist. Gehetzt isst er ein Brötchen. «Das ist eigentlich nicht erlaubt», sagt er zwischen zwei Bissen. Aber was solle er tun, wenn er Hunger habe? Zwischen den Touren habe er keine Zeit zum Essen.
Hat er heute keine reguläre Pause gehabt? Bei dieser Frage muss Silvan lachen. Er winkt ab. «Was nützt mir eine Pause, wenn ich noch nicht hungrig bin?» Sein Arbeitstag habe um 5 Uhr morgens begonnen. Um 9.30 Uhr habe er eine Stunde Pause gehabt. Seither keine mehr. Nicht einmal, um zur Toilette zu gehen oder sich die Beine zu vertreten. Und das könnte auch so bleiben, bis er um 13 Uhr Feierabend hat.
Trotzdem findet er: «Heute habe ich eine angenehme Schicht.» Am schlimmsten seien die 14-Stunden-Tage, von denen nur 9 Stunden bezahlt würden. Oder noch weniger, wenn man Pech habe. Das sieht dann beispielsweise so aus: drei Stunden fahren, dann zwei Stunden Pause, drei Stunden fahren, zwei Stunden Pause und schliesslich wieder vier Stunden durchfahren. An einem einzigen Arbeitstag.
«Was nützen mir diese Pausen?», fragt Silvan. «In dieser Zeit lohnt es sich nicht einmal, nach Hause zu gehen.» Und selbst wenn, dann würde er nur eine leere Wohnung vorfinden. Silvan hat dann Pause, wenn seine Frau bei der Arbeit und seine Kinder in der Schule sind. «Das ist alles legal», sagt Silvan. «Unmenschlich, aber legal.»
Wieder hat Silvan recht.
Ausnahmeregeln sind an der Tagesordnung
Für Angestellte im Personenverkehr gelten gemäss Arbeitszeitgesetz (AZG) andere Regeln als für alle anderen Angestellten in der Schweiz. Das weiss Martin Allemann. Er war einst Lokführer und Gewerkschaftssekretär, bis er sich mit seiner Firma AZG Data GmbH selbstständig machte. Mit dieser berät er Unternehmen und Gewerkschaften zum Arbeitszeitgesetz von Angestellten im öffentlichen Verkehr.
Allein die Tatsache, dass es Allemanns Firma braucht, beweist, wie komplex das Arbeitszeitgesetz für den öffentlichen Verkehr ist. «Es gelten zahlreiche Ausnahmen und Sonderregelungen», sagt Allemann. Diese Ausnahmeregeln seien über die Zeit dazugekommen, um den Besonderheiten im ÖV-Betrieb gerecht zu werden. Etwa, dass es vor allem zu Stosszeiten viel Personal braucht und dazwischen nicht.
Doch die Ausnahmeregelungen, die den Passagieren zugutekommen, werden zunehmend zum Problem für Buschauffeurinnen und -chauffeure. Denn: «Sie sind zur Norm geworden», sagt Allemann. In immer mehr Unternehmen würden keine Menschen mehr die Arbeitspläne erstellen, sondern Computerprogramme. Diese könnten nicht zwischen «Ausnahme» und «Nicht-Ausnahme» unterscheiden. Sie würden nur unterscheiden zwischen «erlaubt» und «nicht erlaubt».
Das Ergebnis: 14-Stunden-Dienste, wie sie Silvan beschrieben hat, werden zur Normalität. Obwohl gemäss Umfrage der Gewerkschaften von 2022 genau diese Dienste die Busfahrenden am meisten belasten.
Bund fördert Preiskampf
In der Rangliste der belastendsten Situationen im Alltag nennen Buschauffeure an zweiter Stelle das Verhalten von Zweiradfahrenden und der fehlende Zugang zu einer Toilette während langer Zeiträume. Viele dieser Belastungen würden weniger ins Gewicht fallen oder könnten behoben werden, wenn man mehr Leute einstellen würde, glaubt Silvan. «Aber das wollen sie nicht», sagt er und zeigt auf das grellgrüne Logo auf seiner Uniform.
Silvan ist nicht direkt beim VBG angestellt, sondern beim privaten Unternehmen Eurobus, das die Konzession für diese Linie erhalten hat. Arbeitszeitgesetz-Experte Allemann sagt: «Die Konzession bekommt, wer am günstigsten ist. Und wie ist man am günstigsten? Indem man möglichst wenige Leute einstellt.» Busunternehmen trügen daher oft auf dem Rücken der Buschauffeurinnen und -chauffeure einen Preiskampf aus. Angestiftet vom Staat höchstpersönlich. Allemann sagt:
Was Silvan aus seinem Arbeitsalltag erzählt, erleben deshalb auch zahlreiche Buschauffeurinnen und -chauffeure in anderen Unternehmen, wie watson an diesem Tag in Gesprächen feststellt. Ein Busfahrer eines anderen Unternehmens kämpft stark blinzelnd gegen die Müdigkeit an und erzählt, dass er schon einmal Sekundenschlaf hinter dem Steuer gehabt habe. Zum Glück sei nichts passiert. Er sagt:
Ausserdem habe er Mühe, zu Hause sofort einzuschlafen. Sein Tag-Nacht-Rhythmus sei aufgrund der ständig wechselnden Morgen- und Abendschichten völlig durcheinander.
Ein anderer Buschauffeur beklagt: «Du brauchst nur ein paar Minuten Verspätung zu haben, wegen viel Verkehr oder einem Velofahrer, dann hast du keine Pause mehr.» Er habe gehört, bei Postauto sei alles ein bisschen besser. watson trifft an diesem Tag eine Postauto-Chauffeurin an, als diese gerade nervös vor einem öffentlichen WC wartet und im Anschluss des Toilettengangs zu ihrem Bus sprintet.
Die Postauto-Chauffeurin kann bestätigen, dass ihre Pausen zwischen den Touren nicht ganz so knapp berechnet sind wie bei anderen Unternehmen. Und dass der Lohn manchmal etwas besser ist. Doch auch sie berichtet von belastenden, regelmässigen Diensten mit 14 Stunden Präsenzzeit und zu wenigen Bewegungsmöglichkeiten im Alltag. «Ich habe Schmerzen in der Bandscheibe», sagt sie. An ihrem freien Tag müsse sie deshalb in die Physiotherapie.
Zeit für ihre beiden Kinder hat sie kaum. Für Freunde sowieso nicht. Wenn sie es nach Monaten wieder mal schaffe, eine Freundin zu treffen, fühle es sich an, als würde sie auf einem anderen Planeten leben:
Ihr Leben bestehe gefühlt nur aus Arbeit und Schlafen. Als sie vor zehn Jahren als Chauffeurin angefangen habe, sei das noch nicht so extrem gewesen. Damals habe sie den Beruf gern ausgeübt. Aber:
Viele Busfahrende berichten an diesem Tag davon, dass sich dir Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren verschlechtert haben. Unter anderem, weil immer öfter Kolleginnen und Kollegen aus gesundheitlichen Gründen ausfallen oder kündigen. Zudem verabschiedet sich ein Grossteil der heutigen Busfahrenden in den nächsten Jahren in die Pension.
Veraltetes Arbeitszeitgesetz
Auf Anfrage von watson bestätigt der Arbeitgeber von Busfahrer Silvan, Eurobus, dass es für seine Buschauffeurinnen und -chauffeure in «Einzelfällen» zu 6-Tage-Wochen kommen kann. Wann immer möglich, würde aber mit einem Wocheneinsatz von fünf Tagen gerechnet. Auch dass es zu 14-Stunden-Diensten, die von langen unbezahlten Pausen unterbrochen werden, kommt, bestätigt Eurobus.
Den Vorwurf, dass seine Busfahrenden unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden, weist Eurobus allerdings entschieden zurück. Man halte sich strikt an das Arbeitszeitgesetz. «Wie alle Verkehrsbetriebe werden auch wir wiederkehrend durch das Bundesamt für Verkehr auditiert, so auch im Jahr 2025. Die Kontrollen blieben ohne Beanstandungen und ohne Auflagen.» Alles im grünen Bereich also? Nein.
Gemäss Experte Martin Allemann ist das Schweizer Arbeitszeitgesetz nicht mehr in allen Punkten zeitgemäss. An Grundregeln wie jener, dass neun Stunden Ruhezeit zwischen den Diensten genügten, habe sich beispielsweise seit den 1970er-Jahren nichts geändert. Damals jedoch habe es noch keinen 24-Stunden-Busbetrieb gegeben, so wie heute in vielen Schweizer Städten. «Um zehn, elf Uhr am Abend war Schluss.»
Als das Arbeitszeitgesetz erstmals in Kraft trat, wohnten die Busfahrenden vorwiegend am Arbeitsort oder in der Region. Das sei heute oft nicht mehr der Fall. Allemann sagt:
Bundesamt nimmt sich aus der Verantwortung
Dass ein privates Unternehmen mehr am Profit als an guten Arbeitsbedingungen interessiert ist, kann Buschauffeur Silvan nachvollziehen. Aber:
watson fragt beim Bundesamt für Verkehr (BAV) nach. Dieses betont, dass es sich durchaus um das Wohl der Busfahrenden kümmere. 2014 beispielsweise habe das BAV einen Mindest-Jahreslohn von 58’300 Franken für Chauffeurinnen und Chauffeure im subventionierten regionalen Busverkehr eingeführt. Allerdings bezahlten gemäss der Gewerkschaft SEV zum Zeitpunkt der Einführung bereits 90 Prozent der Unternehmen diesen Lohn freiwillig. Von einer starken Verbesserung – insbesondere in Bezug auf die Alltagsbelastungen – kann also nicht die Rede sein.
Auf die Frage, was der Bund in den letzten 20 Jahren ganz konkret zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Buschauffeurinnen und -chauffeuren beigetragen hat, verweist das BAV an die Gewerkschaften. Und hält fest, dass es derzeit eine Revision des Arbeitszeitgesetzes erarbeite. «Vorgesehen sind unter anderem punktuelle Anpassungen, die eine übermässige Anwendung von Ausnahmebestimmungen wirksam einschränken sollen.»
Den Vorwurf, dass der Bund aufgrund seines Sparkurses eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen verhindere, weist das BAV entschieden zurück. Das BAV müsse im Interesse der Steuerzahlenden ein «effizientes System» gewährleisten. Würde Busfahren zu teuer, würden mehr Leute mit dem Auto pendeln.
Dass die Busfahrenden unter diesem «effizienten System» leiden, möchte das BAV nicht wahrhaben. Es schreibt stattdessen:
Und weiter: «Schlussendlich ist es das Parlament, das über die Anpassungen im Arbeitszeitgesetz entscheidet, beziehungsweise es kann auch solche initiieren.»
Übersetzung: Für die Buschauffeurinnen und Buschauffeure in der Schweiz fühl sich niemand verantwortlich. Weder der Bund noch die privaten Busunternehmen. Und während diese sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben, drehen Buschauffeure wie Silvan weiter mit schmerzenden Gliedern ihre Runden und hängen Tagträumen von ihren Familien nach – die nie in Erfüllung gehen.
*Name zum Persönlichkeitsschutz anonymisiert.
