«Ändert sich nichts, müssen die Gäste bald selbst kochen»
Wir sitzen am frühen Morgen im «Colombo», gleich neben dem Bahnhof Baden. In einer Stunde öffnet das Restaurant. Unternehmer und Geschäftsführer Carlos Ferreira mag diese Zeit, die Ruhe vor dem Sturm. Aus der Küche klingt Geschirrklimpern, ein Mitarbeiter trägt Kissen durchs Lokal.
Das Interview
Herr Ferreira, viele Gastro-Betriebe klagen über Personalmangel, besonders im Service. Kennen Sie das auch?
Carlos Ferreira: Erst seit Kurzem. Ich bin seit fast 15 Jahren selbstständig, aber so herausfordernd wie jetzt war es noch nie. Ich finde zwar noch immer Personal, doch es ist schwierig geworden. Man muss viel Zeit in Auswahl und Rekrutierung investieren.
Die Auswahl an guten Leuten ist klein?
Manche glauben, im Service könne jede und jeder arbeiten – das stimmt nicht. Es ist anspruchsvoll, mental und körperlich. Das tönt banal, aber erst wer es jahrelang selber gemacht hat, kann das wirklich beurteilen.
Warum ist es gerade jetzt so schwierig geworden?
Viele sind nach Corona ausgestiegen, auch weil gewisse Arbeitgeber keinen anständigen Lohn über die Entschädigung hinaus zahlten. Viele fanden Jobs mit mehr Wertschätzung. Unsere Branche hat es verpasst, die Arbeit attraktiver zu machen.
Meinen Sie: höhere Löhne?
Es geht nicht primär ums Geld oder um die Arbeitszeiten. Entscheidend ist, zu zeigen, dass Gastronomie sehr viel zu bieten hat und etwas vom Schönsten ist. Früher war man stolz, in der Branche zu arbeiten, träumte vom Auslandseinsatz. Dieser Geist ist verloren gegangen.
Also sind die Arbeitgeber schuld?
Das wäre zu einfach. Viele Angestellte sagen, sie arbeiteten sehr gern in der Gastronomie. Die Gründe sind vielschichtig – manchmal liegt es auch an den Gästen (denkt nach).
Sie zögern, kritisch über Gäste zu sprechen?
(Lacht) Wir haben tolle Stammgäste und immer wieder spannende Begegnungen. Aber ja: Es gibt Gäste, die nicht einfach sind. Das belastet das Personal. Der Umgang mit Menschen, sich abgrenzen zu können, nicht alles persönlich zu nehmen, das kann nicht jeder.
Sind die Gäste seit Corona ungeduldiger geworden?
Ja. Ich bin meinen treuen Gästen sehr dankbar, aber die Ansprüche sind gestiegen. Die Leute sind kritischer, einige glauben, alles besser zu wissen – wohl auch wegen der sozialen Medien. Die ältere Generation ist gelassener, die jüngere anspruchsvoller.
Auf TikTok ist jeder Cappuccino perfekt. Hat es damit zu tun?
Vielleicht haben sie dort auch ein Video eines Caesar-Salats gesehen. Für mich gehören Sardellen hinein – auf TikTok fehlen sie womöglich. Wenn wir dann unseren Caesar-Salat servieren, entstehen mitunter lange Diskussionen.
Sind jüngere Gäste wegen der sozialen Medien anspruchsvoller?
Nicht nur deswegen. Ich verstehe, dass für Jüngere die Preise wichtig sind. Aber sie vergleichen oft mit Take-away-Angeboten. Ein Restaurant hat andere Kosten – für Lokalität, Miete, Personal, Ware. Das wird oft vergessen.
Erzeugen Bewertungen auf Google oder TripAdvisor zusätzlichen Druck?
Ja. Über Reservationstools kommen Bewertungen von echten Gästen, das ist okay. Aber Google und TripAdvisor sind problematisch: Viele Rezensionen stammen von Leuten, die vielleicht gar nie da waren. Ich fände gut, man müsste einen Beleg vorlegen – wie in Deutschland.
Wird bei den Bewertungen manipuliert?
Es fällt schon auf, wenn ein neues Lokal in zwei Wochen 100 Bewertungen aufweist, während andere nach mehreren Jahren nur 300 haben.
Darf man einem Gast einen Wunsch abschlagen? Oder hat er immer recht?
An Wochenenden mit Brunch gibt es fast an jedem Tisch Sonderwünsche. Wir gehen immer darauf ein. Kommt der Wunsch bei der Bestellung, ist es kein Problem. Schwierig wird’s, wenn der Salat schon auf dem Tisch steht und plötzlich die Sardellen stören – das erzeugt Foodwaste.
Aber das heisst: Sie erfüllen jeden Wunsch?
Wir versuchen es. Das gehört zu unserem Beruf. Am Ende soll der Gast das Restaurant glücklich verlassen. Dann kommt er wieder. Glück und Wiedersehen: Das ist das Ziel.
Braucht es dafür nicht fast ein Psychologiestudium?
Manchmal wäre das hilfreich (lacht). Im Prinzip reichen aber Aufmerksamkeit, Wahrnehmungsfähigkeit und Verantwortungsgefühl. Ob jemand den Teller von links oder rechts bringt, ist zweitrangig. Wichtiger ist, dass das Personal spürt, was der Gast braucht.
Und wenn etwas schiefläuft?
Verantwortung übernehmen, Ruhe bewahren, Geduld haben.
Was soll ein Gast tun, wenn er übersehen wird? Rufen?
Besser ist eine Geste oder Augenkontakt. Ein guter Mitarbeiter erkennt solche Signale sofort. Aber wo zu wenig Personal im Einsatz ist, werden sie vielleicht übersehen. So entsteht Frust.
Wie motivieren Sie Ihr Team?
Mit Zuhören und Wertschätzung. Gäste wollen oft reden, weil sie sonst niemanden haben – Mitarbeitende ebenso. Ich höre zu, zeige Interesse und sage am Ende des Tages Danke.
Was kann ein Kunde tun, um einen Beitrag zu leisten?
Viele Gäste können sich nicht vorstellen, was ein kleines Kompliment wert ist. Das kann unglaublich viel ausmachen! Leider bekommt das Personal öfters Feedback, wenn etwas nicht passt.
Wie viel Trinkgeld ist angemessen?
Meine Faustregel als Gast: mindestens 5 Prozent. Bei sehr guter Leistung von Küche und Service 10 Prozent. Und manchmal gar nichts – wenn ich mich nicht willkommen oder gut betreut fühlte. Dann sage ich das direkt: «Tut mir leid, heute gebe ich nichts.» Das ist ehrliches Feedback und bringt die Gastgeber weiter. Das wünsche ich mir auch von unseren Gästen.
Bargeld wird immer seltener. Gastro-Unternehmer Manuel Wiesner hat auf Kartenzahlung umgestellt, Trinkgeld bezahlt er wie Lohn aus. Eine gute Idee?
Ich finde nicht. Trinkgeld motiviert zusätzlich. Würden wir es zum Lohnbestandteil machen, kämen Abgaben und Steuern drauf. Ich teile die Haltung von GastroSuisse: Trinkgeld soll spürbar extra bleiben. In meinen Lokalen teilen wir das Trinkgeld im gesamten Team auf, inklusive Küche.
Die Gäste wollen reden, die Mitarbeiter wollen reden: Wohin gehen eigentlich Sie, wenn Sie Sorgen haben?
Ich habe ein gutes Umfeld, rede mit Freunden – aus der Gastro oder anderen Branchen. Alle kämpfen mit ähnlichen Problemen. Oft spreche ich mit meinem Bruder und meiner Mami. Er arbeitet in einer ganz anderen Branche, kämpft aber mit denselben Herausforderungen. Der Druck ist überall gestiegen.
Ist die Gastronomie ein Brennglas der Gesellschaft?
Ja. Themen wie Anstand, Geduld, Umgangsformen und Zeitdruck bündeln sich im Restaurant. Alles muss sofort gehen – am besten steht der Kaffee schon bereit, wenn man reinkommt. Das spiegelt die Gesellschaft wider.
Auch der Personalmangel ist in der Gastro sichtbarer. Das «Paradies» in Baden schloss, weil Servicepersonal fehlte.
Wer 15 Gault-Millau-Punkte hat, braucht qualifiziertes Personal – nicht nur in der Küche. Findet man es nicht, wird’s existenziell. Es fehlt an Aus- und Weiterbildung, und viele Neue sind nicht gut genug.
Die Zahl der Konkurse von Restaurants ist in den ersten neun Monaten 2025 in der Schweiz auf eine rekordverdächtige Zahl gestiegen: 872. Das sind fast 100 pro Monat.
Ich vermute, etwa gleich viele werden jeden Monat wieder neu gegründet. Man muss ehrlich sein: Es gibt – nicht auf dem Land, aber in Städten wie Baden –zu viele Lokale. Es werden laufend neue eröffnet, vielleicht ursprünglich als Take-away, und die Behörden kontrollieren nicht, ob die Vorgaben eingehalten werden. Wer zum Beispiel entgegen der Vorgabe keine behindertengerechte Toilette hat, spielt nicht fair. Da sollten die Behörden mehr Verantwortung übernehmen. Aber das war, im Gegensatz zum Personalproblem, schon immer so.
Hat das Ausbildungsniveau abgenommen?
Erwartungen und Fachwissen sind tiefer als vor 20 Jahren. Heute fehlt angehenden Köchen zum Teil das Grundwissen über Gerichte. Zu meiner Lehrzeit wäre das unvorstellbar gewesen.
Ist auch der Berufsstolz verloren gegangen?
Teilweise. Früher war Leidenschaft und Ehrgeiz der Antrieb, nicht Geld. Viele gingen nach der Lehre ins Ausland – ein paar Jahre in Los Angeles waren realistisch. Träume wurden wahr. Schweizer Abschlüsse waren begehrt.
Gibt es diese Auslandschancen noch?
Für starke Lehrbetriebe im Gourmetbereich ja, in der Breite ist das Niveau aber gesunken.
Warum? Ist es ein Wohlstandsproblem?
Man muss einen gewissen «Hunger» haben. In den 1990er-Jahren gab es mehr Bewerber als Stellen – man musste liefern. Heute ist es umgekehrt: Jeder weiss, irgendetwas findet er immer. Das dämpft Ehrgeiz und Einsatz.
Die Work-Life-Balance ist wichtiger geworden. Homeoffice ist Ausdruck davon.
Homeoffice in der Gastro … das geht höchstens beim Inhaber (lacht). Die Prioritäten haben sich verschoben. Wenn sich nichts ändert, müssen die Gäste irgendwann selbst kochen – und serviert wird vom Roboter.
Was könnte GastroSuisse tun?
Mehr Einsatz und mehr Kanäle – nicht nur eine Kampagne. Es gab zwar Aktionen wie «Host of Switzerland», um Nachwuchs zu motivieren. Aber das reicht nicht. Hilfreich wären konkrete Angebote für Fortbildungen. Ich würde den Mitgliederbeitrag erhöhen, dafür wären darin noch Kurse inklusive.
Weiterbildungsanreize?
Viele Betriebe zögern, 2000 Franken in eine Weiterbildung zu investieren. Wenn solche Kurse im Jahresbeitrag enthalten wären, gäbe das einen Motivationsschub. Wer einen Kurs besucht, kommt inspiriert zurück und steckt andere an.
Wenn Sie nochmals jung wären: Würden Sie die Kochlehre wieder machen?
Ja. Die Lehrzeit war eine der schönsten Phasen meines Lebens. Mein Lehrmeister war Klaus Ditz vom Restaurant Latino (15 Gault-Millau Punkte) im Hotel Astoria in Luzern. Er war streng, aber ein grossartiger Kommunikator. Wir lernten jeden Tag Neues. Er konnte die Leute motivieren und zum Lachen bringen. Das hat mich geprägt. Ich habe enorm viel gelernt und bin dankbar für diese Erfahrung.
Die Branche fordert viel, auch privat. Welchen Preis zahlen Sie dafür?
Man muss verzichten lernen. Ich habe über 20 Jahre keinen Fussball gespielt. Nach Corona habe ich wieder begonnen – bei den Senioren des FC Baden. Das tut gut. Als Geschäftsführer oder Unternehmer denkt man oft: Es geht nicht. Doch man muss es einfach tun, dann geht es.
Wie wurden Sie vom Angestellten zum Unternehmer?
Eines Tages sah ich in Baden beim Vorbeigehen ein leerstehendes Lokal, schrieb dem Inhaber, und so kam es ins Rollen. Mir fehlte zuerst der Mut. Den Tritt in den Hintern gab mir meine damalige Partnerin. Ohne sie hätte ich die Komfortzone wohl nicht verlassen.
Wie haben Sie es finanziell geschafft? Banken geben Gastro kaum Kredite.
Die Bank deckte vielleicht 10 Prozent der Gesamtinvestitionen ab. Ich investierte persönlich alles, was ich hatte, der Rest kam aus der Familie – und beim «Mira», meinem ersten Lokal, investierte sogar der Vermieter mit. Ich riskierte alles, war privat quasi pleite.
Und Sie haben die Familie angepumpt. Schliefen Sie noch gut?
Eigentlich schon. Ich wusste: Jetzt darf ich mir keinen Fehltritt leisten. Man will die Familie nicht enttäuschen, das Geld zurückzahlen. Aber wichtiger als das Finanzielle war für mich: Wie verbessere ich das Konzept? Wie gehe ich mit Feedback um? Die Angst zu scheitern war kleiner als der Wille, ein guter Gastgeber zu sein.
(aargauerzeitung.ch)