Der Sport zieht einen wesentlichen Teil seiner Anziehungskraft aus Traditionen. Das Rugby pflegte eine wunderschöne, die es in der Zwischenzeit aufgegeben hat. Als 1987 erstmals eine WM durchgeführt wurde, wurde das Eröffnungsspiel mit einer Schiedsrichterpfeife aus dem Jahr 1905 geleitet.
Die Pfeife gehörte Gil Evans. Der Unparteiische aus Wales setzte sie vor mittlerweile 114 Jahren ein, als Neuseelands Rugby-Nationalteam, die legendären «All Blacks», erstmals durch Grossbritannien tourte. Danach kam die Pfeife in weiteren wichtigen Spielen zum Einsatz, unter anderem auch im Olympia-Final 1924.
Es war der letzte olympische Auftritt des Rugbys bis 2016 in Rio, wo die Version mit sieben Spielern ins Programm aufgenommen und Fidschi Olympiasieger wurde. Rugby Union war nach 1924 vor allem in den Home Nations, in den einstigen britischen Kolonien und in Frankreich richtig gross. Die Five-Nations-Turniere mit England, Schottland, Wales, dem vereinten Irland sowie den Franzosen waren die jährlichen Höhepunkte. Als dann 1987 in Neuseeland und Australien zum ersten Mal eine Rugby-WM ausgetragen wurde, erinnerte sich jemand an Gil Evans Pfeife. Sie wurde aus dem Museum geholt und danach an jeder Weltmeisterschaft im Eröffnungsspiel eingesetzt.
Tony Spreadbury leitete das erste Match der WM 2007 in Frankreich und durfte in die geschichtsträchtige Pfeife blasen. Doch gleich beim ersten Unterbruch reichte der Engländer sie zur Aufbewahrung weiter an einen Linienrichter. Nicht wegen Reste jahrzehntealter Spucke: «Ich bin ein bisschen abergläubisch», gab er zu, «deshalb setzte ich das Spiel mit der Pfeife fort, die ich seit 30 Jahren benutzte.»
Spreadbury war einer der letzten Unparteiischen, die Evans Pfeife benutzten. Denn an der letzten WM, 2015 in England, brach der Welt-Rugby-Verband mit dieser schönen Tradition und verzichtete auf ihren Einsatz. In Japan komme die Pfeife ebenfalls nicht zum Einsatz, bestätigte das neuseeländische Rugby-Museum auf Anfrage von watson. Also blieb Gil Evans' Pfeife dort, in Palmerston North, nördlich der Hauptstadt Wellington.
Doch auch Nigel Owens, der Schiedsrichter des Eröffnungsspiels in Tokio, wird eine Trillerpfeife mit einer besonderen Geschichte benutzen. Sie wurde von zwei Rugby-Fans mit dem Velo von London nach Japan gebracht. Rund 20'000 Kilometer legten der Südafrikaner Ron Rutland und James Owens aus Hong Kong zurück, nachdem sie am 2. Februar gestartet waren.
«Es fühlt sich unwirklich an, nun tatsächlich hier zu sein», sagte Rutland bei der Ankunft in Japan nach 223 Tagen Anfahrt durch 27 Länder. Er betonte: «James und ich haben die Pfeife auf der Reise mit dem Leben beschützt!»
14 Mal mussten die beiden Velofahrer einen Platten flicken, es ging von Meereshöhe bis auf 4600 Meter über Meer auf den Kunjirap-Pass in Pakistan. Aber kälter als dort war es in der Türkei, wo das Thermometer -12 Grad anzeigte. Das andere Extrem waren die 42 Grad, bei denen Rutland und Owens, der nicht mit dem gleichnamigen Schiedsrichter verwandt ist, in Indien geschwitzt haben. «Es ist auch eine Erlösung, nun hier in Japan zu sein», sagte Rutland dann auch. «Wir reden immer noch miteinander, es hätte auch in einer Schlägerei münden können», scherzte der 45-jährige Südafrikaner.
After 231 days on the bike, here's the moment that @RonRutland and @JamesOwens_90 handed over the official match whistle that will be used during #JPNvRUS to @RugbyWorldCup referee @Nigelrefowens#EpicJourney #RaceToRWC #RWC2019 pic.twitter.com/G2ce7RgyRW
— DHL Rugby (@DHLRugby) September 19, 2019
Nach weiteren acht Tagen durch Japan wurde die Pfeife gestern rechtzeitig Schiedsrichter Owens übergeben. «Ihr seid Legenden», bedankte sich der Waliser, der vor vier Jahren das WM-Final geleitet hatte. Für die beiden Velofahrer heisst es nun: zurücklehnen und geniessen. Sie bleiben für die WM, die sechs Wochen dauert, in Japan.
Viele Bilder der Velo-Reise gibt es übrigens auf den Instagram-Accounts von Ron Rutland und James Owens.