Hägendorf SO, ein Provinzbahnhof. Drei Gleise, ein altes Bahnhofsgebäude; kaum sind die wenigen Leute aus dem Zug ausgestiegen, verlieren sie sich in den Gassen des Dorfes. Nebel hängt an diesem Morgen über dem Nest. Wir frösteln. Pascal Bourquin bereitet sich für die heutige Etappe vor. Er packt die oberen Kleidungsschichten in den kleinen Rucksack, die Trailschuhe sind geschnürt. Ausser Kleidung hat er praktisch nichts dabei: Eine kleine Kamera, ein Handy und Zusatzakkus. Er setzt sich eine Kontaktlinse ein: «So sehe ich mit einem Auge in die Ferne, mit dem anderen kann ich auf dem Handybildschirm die Karte anschauen.»
Seit dem 1. Dezember 2014 wandert der 50-Jährige durch die Schweiz. Sein Ziel: In 28 Jahren alle Wanderwege des Landes ablaufen. Das Projekt taufte er, den gelben Wegweisern entsprechend, «La Vie en Jaune». Von den 65'179 Kilometern hat er nach drei Jahren deren 8542 Kilometer absolviert. Das entspricht 13 Prozent der Strecke. Dabei bewältigte er 415'000 Meter Höhendifferenz.
Die Kantone Neuenburg und Jura sind bereits abgehakt. Pro Jahr legt Pascal Bourquin rund 3000 Kilometer zurück (die detaillierte Statistik gibt es hier). Aktuell wandert er in drei Gebieten. Je nach Wetter und Tagesform kann er sich so immer die beste Option auswählen. Heute stehen auf der 358. Etappe 27 Kilometer auf dem Programm. Von Hägendorf durch die Tüfelsschlucht nach Langenbruck und – auf anderen Wegen – zurück nach Hägendorf.
Gegen die Kälte hilft Bewegung. So wandern wir los zur Tüfelsschlucht. Immer wieder kontrolliert Bourquin auf seinem Handy, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Das Marschtempo ist gelinde gesagt: schnell. Wir gehen forschen Schrittes. Bergauf hängt er mich jedes mal ab. Immer wieder fotografiert er. «Mein Projekt besteht aus drei Stützen: Sport, Kultur und Kunst», sagt er, nachdem er eine Nahaufnahme des wilden Bachs geknipst hat. Dann geht es weiter. Der Blick immer wieder aufs Handy.
Heute ist kein «Wandertag» für die breite Masse. Wir sind daher praktisch alleine unterwegs. Dies sei oft so. «Mit den Wanderwegen in der Schweiz verhält es sich ähnlich wie mit dem Reichtum», erzählt Bourquin, «auf zehn Prozent der Wege sind die meisten Wanderer unterwegs, auf den anderen 90 Prozent bist du praktisch immer alleine.»
Das Projekt kann auf lavieenjaune.ch verfolgt werden. Von jeder Etappe lädt er Bilder auf Facebook, unterwegs beglückt er seine Instagram-Follower mit grossartigen Bildern. «Wenn der Horizont nicht interessant ist, fokussiere ich auf die Details», sagt der Jurassier.
Langweilig sei ihm auf einer Wanderung bisher noch nie geworden. Es gibt vieles zu sehen und er muss immer drauf achten, dass er keine Abzweigung verpasst. «Wenn es gar nichts gibt, dann jogge ich halt.» Bourquin war schon immer sportbegeistert. In seiner Jugend gehörte er in der Leichtathletik zur nationalen Spitze. Neben Fussball und Volleyball versuchte er sich auch in anderen Sportarten. Besonders angetan hatte es ihm aber der Alpinismus. Er bestieg viele markante Gipfel wie den Mont Blanc, den Kilimandscharo oder den Aconcagua.
Wie kam er aber auf die Idee für «La Vie en Jaune»? «Angefangen hat alles auf dem Illimani», erzählt Bourquin. Er sei auf dem 6500 Meter hohen Gipfel in Bolivien gestanden, habe die Aussicht genossen und sich gefragt: «Was jetzt?» Spontan kam ihm nur noch eine Steigerung in den Sinn: der Mount Everest. Also bereitete er sich auf die Tour zum Dach der Welt vor. Bis er bei einer Radiosendung von «Stau am Everest» hörte und wenig später dieses Bild dazu sah:
Pascal Bourquin muss beim Anblick noch immer den Kopf schütteln: «Da wusste ich. Das will ich nicht. Ich will etwas anderes machen.» Er zeigt die Schweizmobil-App: «Ohne das Ding wäre das alles nicht möglich. Da ist jeder Wanderweg eingezeichnet. Er realisierte: Es ist möglich.
Wir haben das Nebelmeer längst unter uns gelassen. Vom Schwengiflüeli geniessen wir kurz die Aussicht. Viele Pausen gibt es sonst nicht. 27 Kilometer laufen sich nicht von alleine ab. Wenig später finden wir in Langenbruck «Hidi's Beizli» und essen zu Mittag. Es sei gesagt: Wenn ihr mal in Langenbruck seid, geht da hin. Es ist rundum grossartig. Ein kleines Restaurant, wie man es in keinem Reiseführer finden würde. Gut verpflegt machen wir uns dann auf den Rückweg.
Was fasziniert Bourquin an seinem Projekt? «Ich bin ein gewöhnlicher Mensch und bewege mich auf einem gewöhnlichen Spielfeld (die Schweiz), mache da aber etwas Ungewöhnliches.» Tatsächlich melden sich einige Follower, die ihm sagen, es sei schön, dass sie durch ihn die Schweiz kennenlernen. Sie könnten so etwas nie durchziehen. Hatte er denn auch schon Motivationsprobleme? «Nach ungefähr einem Monat hatte ich am Morgen keine Lust, um aufzustehen. Da sagte ich mir: Entweder ziehst du es jetzt durch oder nicht. Ich stand auf und wanderte den ganzen Tag.»
Er selbst sieht sich nicht als Extremsportler. «Wander-Wettkämpfer» sei passender. Ganz seinem Projekt widmen will er sich nicht. Zwei bis drei Tage pro Woche wandern reichen dem Ehemann und Vater zweier erwachsener Kinder. Sein Arbeitspensum beim Westschweizer Fernsehen RTS hat Bourquin zwar auf 80 Prozent reduziert, aber er weiss: Verletzt er sich oder ist die Motivation trotzdem mal weg, würde womöglich zu viel in seinem Leben zusammenbrechen und er in eine Leere fallen. Da will er vorbeugen.
Verletzt hat er sich bisher in drei Jahren fünf Mal. «Es wird wieder geschehen. Das sagt die Statistik.» Bourquin nimmt es gelassen hin. Ändern kann er es eh nicht.
Wir nähern uns wieder Hägendorf. Die Sonne verabschiedet sich im Nebel, es wird kühl. Wir queren die Tüfelsschlucht erneut, kommen dann ins Dorf. Eine Drachen-Figur in einem Vorgarten ist ihm ein Bild wert. Der Bahnhof taucht auf. Die 358. Etappe ist absolviert. Über 2500 fehlen noch. Das Ende ist eigentlich nicht absehbar.
«Ich denke nicht oft an das Ende. Ich mache einfach eine Etappe um die andere. Vielleicht ist es das, was vielen Menschen fehlt. Sie haben nicht den Mut, etwas anzufangen, ohne schon die Ziellinie zu sehen». Er sei aber glücklich, wenn er durch sein Vorhaben andere zu Projekten motivieren könne.
Läuft alles nach seiner Vorstellung, endet «La Vie en Jaune» am 1. August 2041 auf dem Bundesplatz in Bern. «Dann wird die Schweiz 750 Jahre alt. Ich will da einmarschieren und sagen können: ‹Ich hab's geschafft.›» Und wenn dazwischen irgendetwas passiert und das Projekt scheitert? «Dann schaffe ich es nicht. Tant pis! Ich habe die bisherigen Etappen extrem genossen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich zwischen Hägendorf und Langenbruck so viele schöne Orte vorfinde. So geht es mir oft. Ich freue mich auf die weiteren Jahre. Der Weg ist das Ziel.»