Die Wetterprognose und die sportlichen Vorhersagen waren falsch: Garstigstes Hudelwetter war angesagt und ein Sieg der Berner ist erwartet worden. Der Regen kam erst am späten Nachmittag um 16.16 Uhr und die Berner haben nach dem Eidgenössischen 2022 in Pratteln (Schlussgangniederlage von Matthias Aeschbacher) schon wieder einen «eidgenössischen Betriebsunfall» erlitten: Adrian Walther hat den Schlussgang gegen den Nordostschweizer Samuel Giger verloren.
Die Berner haben den Festsieg nicht erst im Schlussgang preisgegeben. Im Rückblick erkennen wir: Die Entscheidung fällt im ersten Gang. Samuel Giger bodigt Fabian Staudenmann. Den mächtigsten Titanen der Berner. Den Überflieger der Saison. Den meistgenannten Favoriten.
Diese Niederlage kann Fabian Staudenmann nicht mehr wettmachen. Er erholt sich zwar und gewinnt die restlichen fünf Gänge. Aber die Maximalnoten werden ihm fehlen, um den Schlussgang zu erreichen, und er muss sich mit Rang 3 begnügen. Matthias Aeschbacher, der Schlussgangverlierer von Pratteln, bleibt auch früh auf der Strecke. Er verliert zum Auftakt gegen Pirmin Reichmuth und nach dem Gestellten (Unentschieden) im vierten Gang ist Lichterlöschen und er muss sich mit Rang 7 begnügen.
Ihrer Breite verdanken die Berner, dass einer doch noch in den Schlussgang kommt: Adrian Walther, einer der neuen Generation wie Fabian Staudenmann. Unspunnen ist sein bestes Fest in dieser Saison. Aber es reicht nicht. Die Niederlage im Schlussgang ist wahr und klar und zwingend und wirft ihn auf Rang 4 zurück. Samuel Giger dominiert den Kampf von der ersten Sekunde an.
Der Sieg zum Auftakt gegen Fabian Staudenmann hat Samuel Giger das Adrenalin beschert, das die Nervosität auflöst, die ihm schon oft einen Streich gespielt hat. Nun ist der mental manchmal zerbrechliche Titan «unzerstörbar». Endlich gelingt ihm der grosse eidgenössische Triumph. Beim Kilchberg hatte er 2021 den Sieg noch mit Fabian Staudenmann und Damian Ott teilen müssen. Nun aber ist er der einzige, der unbestrittene, der souveräne und charismatische Sieger beim wichtigsten Fest des Jahres.
Zur Frage nach der «Berner Zwilchhosen-Mafia»: Adrian Walther und Pirmin Reichmuth weisen nach fünf Gängen gleich viele Punkte auf. Wer darf nun den Schlussgang bestreiten? Das Einteilungskampfgericht entscheidet sich für den Berner Adrian Walther und gegen den Innerschweizer Pirmin Reichmuth.
Da kommt der Verdacht auf: Natürlich hatte die «Berner Zwilchhosen-Mafia» ihre Finger im Spiel. Bei diesem grossen Fest auf Berner Boden, das die Berner bereits 1805 erfunden haben, muss einfach ein Berner in den Schlussgang.
Doch so ist es eben nicht. So bernisch Unspunnen in der DNA auch sein mag: Es ist ein Fest mit eidgenössischem Charakter unter Aufsicht des Eidgenössischen Schwingerverbandes. Das bedeutet: Die Berner haben im Einteilungskampfgericht gleich viele Stimmen wie die Innerschweizer. Also eine. Ein Reglement, wer bei Punktgleichheit vorzuziehen ist, gibt es nicht. Es gibt Kriterien, die zur Entscheidung beigezogen werden (wie die Gegner der beiden Kandidaten an diesem Fest, die Anzahl Maximalnoten oder verlorene, gestellte und gewonnene Gänge). Aber zwingend sind die nicht. Auch wenn einer der beiden Schlussgangaspiranten König wäre, so hätte er kein Anrecht auf Vorzugsbehandlung. Das Einteilungskampfgericht hat sich für Adrian Walther und gegen Pirmin Reichmuth entschieden und die Entscheidung lässt sich politisch, sportlich und kulturell gut begründen.
Man mag auch monieren, dass Samuel Giger auf dem Weg in den Schlussgang die «leichteren» Gegner gehabt habe als Adrian Walther: Benjamin Gapany und Steven Moser im vierten und fünften Gang. Die beiden Südwestschweizer gehören nicht zu den ganz, ganz, ganz «Bösen» (obwohl Gapany 2019 den eidgenössischen Kranz holte). Aber auch da hat das Einteilungskampfgericht seine Unbestechlichkeit bewiesen: Bei der Einteilung werden die Besten des Tages gegeneinander eingeteilt.
Benjamin Gapany und Steven Moser sind dem Namen nach zwar «Hinterbänkler». Aber sie waren mit drei Maximalnoten spektakulär gestartet, standen in der Spitzengruppe der Rangliste und mussten sich – wie es sich gehört – nun gegen den Besten bewähren. Namen sind beim Einteilungskampfgericht nur Schall und Rauch. Eingeteilt wird nach den Erfordernissen der Rangliste. Und ein bitterböser Spruch machte die Runde: Bei den «Bösen» aus der Südwestschweiz sei es halt wie bei Gottéron. Grosse Siege, viel Spektakel in der Qualifikation. Aber wenn es dann ums «Eingemachte» geht (im Hockey um den Titel, im Schwingen um eidgenössische Triumphe), reicht es halt nicht mehr. Wehmütig wird daran erinnert, dass anno 1976 zum letzten Mal ein Südwestschweizer Unspunnen gewonnen hat. Steven Moser beendet Unspunnen 2023 im 5. und Benjamin Gapany im 6. Rang. Immerhin Ehrenmeldungen wie die Qualifikationssiege von Gottéron 1992, 1994 und 2013.
Nie seit 1805 war Unspunnen so laut und stimmungsvoll wie 2023. Nicht nur die sportliche Kultur hat sich verändert. Aus den kräftigen Bauern, Käsern, Zimmermännern, die am Feierabend noch ein wenig rauften, sind längst Modellathleten geworden, die nach den neusten Erkenntnissen der Sportwissenschaft trainieren. Und nun verändert sich eben auch die Kultur der Zusehenden: weniger schwerblütig, weniger behäbig und immer temperamentvoller. Auch auf den Tribünen dominiert mehr und mehr eine neue Generation. Unspunnen 2023 war auch viel stimmungsvoller und lauter als Unspunnen 2017. Traditionalisten mögen diese Emotionen auf den Rängen kritisieren. Zu Unrecht: Das Schwingen ist in der «Unterhaltungsindustrie» des 21. Jahrhunderts angekommen (Sport gehört nun mal zur «Unterhaltungsindustrie») und die Feste sind ganz einfach: cool.
Das Bodenständige ist trotzdem nicht verloren gegangen. Schwingen bleibt ewig urchig. Bundesrat Albert Rösti sitzt im Publikum ohne Bodyguards und auf eine entsprechende Frage sagt er, es sei sicherlich da und dort ein Kantonspolizist vor Ort. Aber die seien ja sowieso da. Und Albert Rösti ist nicht einfach nach Interlaken gekommen, weil ein SVP-Bundesrat ein Schwingfest mit eidgenössischem Charakter so wenig auslassen darf wie ein SP-Magistrat die Einweihung eines Kulturzentrums an einem 1. Mai. Albert Rösti ist ein Kenner. Als sich bei den Bernern bereits Ernüchterung breit macht und die Schlussgangqualifikation von Adrian Walther noch in weiter Ferne liegt, wird der Magistrat auf die Berner Enttäuschung angesprochen. Doch er mahnt: Es sei noch nicht vorbei und man solle Adrian Walther auf der Rechnung haben.
Unspunnen 2023 hat einen würdigen Sieger, beschert den Bernern eine bittere Niederlage und geht als eines der ganz grossen eintägigen Feste in die eidgenössische Geschichte ein.