Zermatt im August 2023. Neben der eindrücklichen Masse an Touristen aus aller Herren Länder und inflationär durch die Strassen rasende Elektrofahrzeuge jeglicher Bauart sind die auffälligen, weil grosszügig mit Logos gespickten Trainerjacken von Vertretern aus dem Skizirkus allgegenwärtig. Die Zeit der Skitrainings auf den hoch gelegenen Gletschern im Wallis beginnt in diesen Tagen. In Zermatt soll schliesslich im November auch die erste Abfahrt der Saison stattfinden.
Ihre drei ersten Tage auf Schnee hat auch die Bündnerin Jasmin Flury hinter sich, bevor sie heute Mittwoch mit ihren Teamkolleginnen für drei Wochen in den argentinischen Winter nach Ushaia reist. Flury darf sich seit einem halben Jahr Abfahrts-Weltmeisterin nennen, sie ist deswegen aber noch längst kein Star in der erfolgsverwöhnten Equipe von Swiss Ski. Namen wie Marco Odermatt, Corinne Suter oder Lara Gut-Behrami stehen in Sachen Bekanntheit weit vor der 29-Jährigen aus Davos Monstein.
Droht Flury gar eine skigeschichtliche Einschätzung wie Verbandspräsident Urs Lehmann, der auf den Tag genau 30 Jahre vor ihr im japanischen Morioka Abfahrts-Weltmeister wurde? Der Legende nach von einer Windböe zum Sieg geblasen und als One-Hit-Wonder in den Skibüchern verewigt. Auch Flury hat neben dem WM-Titel aus knapp zehn Jahren Weltcuperfahrung nur einen Podestplatz in der Abfahrt vorzuweisen.
Jasmine Flury ist genügend selbstbewusst, dass sie sich bei aller Würdigung der äusseren Umstände nicht als Zufalls-Weltmeisterin bezeichnen lässt. Sie traut sich zu, «wenn alles stimmt» im Weltcup regelmässig in die vorderen Ränge zu fahren, bleibt aber realistisch: «Ich messe mich nicht an diesem WM-Titel und gehe nicht davon aus, dass ich nun von Sieg zu Sieg eile.» Ob er einen Boost punkto Selbstvertrauen bringt, werde sich im Winter zeigen.
Mentaltraining nimmt in ihrem Leben seit vielen Jahren einen festen Platz ein. Entsprechend kann sie sich vorstellen, nach der Skikarriere etwas in diesem spannenden Metier zu machen. Auch eine soziale Arbeit zum Beispiel für Unicef in Afrika auszuüben, würde Jasmine Flury reizen.
Den Weg zum Mentaltraining hat sie einst gesucht, «um sich gedanklich besser auf den Moment konzentrieren zu können». Sie habe sich zu sehr darauf versteift, sich an einem erreichten Erfolg zu messen. «Und ich bin oft zu kritisch zu mir. Ziel ist, nicht nur darauf zu fokussieren, was ich besser machen kann, sondern auch darauf, was ich gut mache.»
Druck, künftig in jedem Rennen mit dem Titel gemessen zu werden, spürt sie nicht. Um aber die dringend erhoffte Konstanz in ihre Leistungen zu bringen, hat sich die Stiefschwester von Langläufer Jason Rüesch zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen: Im Anschluss an den grössten Erfolg der Karriere die Skimarke von Fischer zu Kästle zu wechseln.
Es sei ihr bewusst, dass dieser Entscheid für viele nicht nachvollziehbar sei. Die Konstanz, mit welcher ihre zukünftige Markenkollegin Ilka Stuhec im vergangenen Winter bei allen Bedingungen auf Kästle unterwegs war, habe sie aber stark beeindruckt und letztlich überzeugt. Einen positiven Aspekt hat der Entscheid bereits gebracht. «Meine Motivation für die ersten Schneetrainings war mega.» Sie sei wie bei einer neuen Liebe so richtig aufgeregt. Schliesslich müssen sich Fahrerin und Athletin wie in einer Beziehung wenn möglich bis zur ersten Belastungsprobe finden.
Trotz der neuen Schmetterlinge im Bauch verschliesst die Bündnerin die Augen nicht vor der Problematik des Skisports. Dass man selbst auf dem Gletscher Jahr für Jahr früher abschwingen muss, weil der Schnee ausgeht, gibt ihr durchaus zu denken. «Ich habe gerade heute Morgen beim Blick aus der Gondel mit Corinne Suter diskutiert, wo wir vor zehn Jahren noch mit den Ski runtergefahren sind.»
Der Klimawandel sei aber für sie als Skirennfahrerin «ein mega-schwieriges Thema». Einerseits sei sie täglich damit konfrontiert, andererseits fehle ihr die Glaubwürdigkeit, um sich fordernd zu äussern, «weil ich aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit nie ein glaubwürdiges Vorbild sein kann. Aber man muss sich definitiv Gedanken über die Zukunft des Skisports machen.»
An ihrem abgeschiedenen Wohnort Monstein, dem sie seit der Geburt treu geblieben ist, schätzt Jasmine Flury die Ruhe, das Heimatgefühl und die Natur. Dass sie in ihrem Umfeld primär die Skirennfahrerin und neuerdings die Abfahrts-Weltmeisterin ist, stört die vielseitig interessierte und reflektierende 29-Jährige ab und zu. «Es ist zwar ein schöner Stempfel, aber es bleibt ein Stempfel. Manchmal würde ich mir wünschen, primär als Mensch Jasmine Flury gesehen zu werden.»
Aus der gewohnten Rolle ausbrechen, war auch ein Motto in der Saisonpause. Sei es mit den Camper-Ferien auf Korsika, mit der Besteigung des ans Matterhorn erinnernde Tinzenhorn in der Nähe von Savognin - notabene der ersten richtigen Klettertour in ihrem Leben. Das sei schon noch fordernd gewesen und habe Mut bedingt. «Man ist da oben ziemlich exponiert.»
Und dann war da noch die Sache mit dem Champagner, ihrem einzigen Wermutstropfen an der WM. «Ich hätte mir so gewünscht, dass es an der Siegerehrung Champagner gibt, denn ich wollte Formel-1-Fahrer Lando Norris nachmachen», gesteht Jasmine Flury. Der Brite öffnet die Flasche mit dem Edelgetränk nach den Rennen jeweils spektakulär, indem er sie mit dem Flaschenboden aufs Podest knallt.
it’s not a lando norris podium without the champagne pop pic.twitter.com/kQImsi5XSo
— andy (@iiiuminateandy) April 24, 2022
it’s not a lando norris podium without the champagne pop pic.twitter.com/kQImsi5XSo
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Der Weltmeisterin blieb dies in Meribel zu ihrer Ernüchterung verwehrt. Aber sie verrät ein kleines Geheimnis: «Ich habe es in meinen Ferien erfolgreich nachgeholt». Jasmine Flury scheint gerüstet für den nächsten Sieg. Dannzumal aber bitte mit Champagner. (aargauerzeitung.ch)