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«Wenn du kannst, bremst du noch ab im Ziel. Sonst lässt du dich einfach fallen»

In seinem letzten Rennen am Lauberhorn fährt Marco Büchel sensationell auf den dritten Rang.
In seinem letzten Rennen am Lauberhorn fährt Marco Büchel sensationell auf den dritten Rang.bild: gepa
Mein Lauberhorn

«Wenn du kannst, bremst du noch ab im Ziel. Sonst lässt du dich einfach fallen»

Marco Büchel hat zum Lauberhorn eine ganz besondere Beziehung. Für watson schreibt er über die Fans, die Schlüsselstellen und über seine sauren Beine. 
17.01.2015, 16:0617.01.2015, 16:25
Marco büchel
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Ich war viele Jahre lang Riesenslalom-Spezialist und erinnere mich, wie ich jeweils am Lauberhorn-Wochenende vor dem Fernseher sass und mitfieberte. Ich meine, hallo, das war der grosse Klassiker, dieses Rennen liess man sich nicht entgehen.

Irgendwann kam ich vom Riesenslalom zum Super-G. In Wengen gab's aber keinen Super-G und so war das Lauberhorn immer noch weit weg für mich. Ich liess diese Abfahrt auch gerne aus, schliesslich wollte ich meine Kraftreserven sparen für den Super-G. Aber irgendwann wurde ich besser, auch in der Abfahrt, und so wollte ich dieses Lauberhorn auch selbst einmal bezwingen.

Ich erinnere mich an die erste Besichtigung, kannte alles bestens aus dem Fernseher. Aber hallo? Viereinhalb Kilometer und eine Laufzeit von 2 Minuten 30 Sekunden, das ist über eine halbe Minute länger als jedes andere Rennen. Ja, und dann fährst du da halt mal runter, rüber über diesen Hundschopf.

Marco Büchel im watson-Interview.video: youtube.com/watson redaktion

Die Schlüsselstellen

Das Lauberhorn ist für Athleten nicht die schwierigste Abfahrt im Skizirkus. Es braucht nicht brutal viel Mut oder Überwindung. Das Lauberhorn ist aber die schwierigste Abfahrt um zu gewinnen. Nimmt man die Strecke auseinander und teilt sie in fünf oder sechs Teilstücke auf, kann das jeder der 60 oder 70 Athleten am Start perfekt fahren. Setzt du die Teilstücke aber zusammen, wird es umso schwieriger.

Bei anderen Abfahrten kannst du Fehler zum Teil wieder gut machen, vielleicht durch eine direktere Linie oder etwas mehr Kraftaufwand. In Wengen geht das aber nicht. Wenn du glaubst, du kannst eine direktere Linie fahren, kostet dich das mehr Kraft, die dir unten im Ziel-S fehlt. Du kannst eigentlich nur verlieren, wenn du mit einer Killerlinie noch etwas gutmachen willst. Wengen ist ein taktisches Rennen. In der Regel gewinnt das Rennen nur ein Läufer mit Erfahrung.

Schlüsselstelle 1: Unmittelbar nach dem Start

Du hast nach dem Start eine Rechtskurve mit einem Dreier-Tor. Die sieht der Zuschauer nicht. Wenn du diese Kurve nicht optimal erwischt, kommst du zum ersten Mal ins Fernsehbild mit einer Sekunde Rückstand. Jeder fragt sich, was da oben passiert ist, ob's vielleicht Wind gab oder so.

Schlüsselstelle 2: Der Hundschopf

Beim Hundschopf kommst du von hinten angefahren und alles was du siehst ist links ein Fels und rechts ein Netz. Du kommst da also mit 80 km/h hin und hast das Gefühl, dass dir da höchstens zwei Meter zwischen Fels und Netz bleiben.

Du denkst: ääähm, okay! Dann hast du zwei Möglichkeiten. Wir sagten immer: Die Jungs mit den grossen Eiern fahren ganz nah am Netz vorbei, die anderen springen mehr nach links. Das ist die Sicherheitslinie.

Schlüsselstelle 3: Die Minschkante

Das ist der Ort, der technisch wirklich schwierig ist. Da brauchst du Mut. Du kommst mit viel Druck über diesen Sprung und noch in der Luft musst du die Skier drehen und springst praktisch in eine Kompression. Das ist technisch nicht ohne. Schön ist, du realisierst die vielen Zuschauer am Gegenhang. Das ist wirklich cool.

Schlüsselstelle 4: Das Kernen-S

Das ist 90 Grad rechts, 90 Grad links. Die erste Kurve geht noch gut. Die zweite Kurve wird eng. Du fährst mit über 100 km/h, vielleicht 110 km/h ein und ausfahren tust du mit etwa 80 km/h. Das ist, als ob du mit 110 km/h in eine Tiefgarage einfährst und dann mit der Handbremse seitlich einparkst. So fühlt sich das für den Athleten an. Denn der Platz geht dir gopf nomol einfach aus.

Schlüsselstelle 5: Haneggschuss

Der Haneggschuss ist dunkel und steil. Man ist bereits seit zwei Minuten unterwegs und beschleunigt auf über 150 km/h. Ist das gesund? Steht man deswegen auf? Nein! Denn mit fast 150 km/h aufstehen oder einen Arm raushalten, da ist ein Zehntel locker weg. Also bleibst du unten und beisst die Zähne zusammen. Der Kopf schreit: Geht’s noch? Steh auf Junge, du kannst nicht mehr! Und gleichzeitig schreit er: Das lässt du schön bleiben!

Schlüsselstelle 6: Ziel-S

Hier hast du noch genau drei Tropfen Benzin im Tank. Du kannst nichts mehr gewinnen, höchstens deinen Vorsprung verwalten. Die Chance, im Ziel-S alles zu verlieren, ist aber weit grösser. Also was tut man? Wenn du noch kannst, fährst du taktisch. Aber das entscheidest du spontan. Klar, es wurde entschärft, man hat eine Kante abgetragen.

Aber Pfeiffentabak, nicht diese Kante entscheidet das Ziel-S, sondern die zweite Kurve. Und die ist das Problem. Wenn du kannst, bremst du noch ab im Ziel. Sonst lässt du dich einfach fallen. Du bist in keinem Rennen so durch wie im Ziel beim Lauberhorn.

Im Zielraum kann sich Marco Büchel nur noch in den Schnee fallen lassen. 
Im Zielraum kann sich Marco Büchel nur noch in den Schnee fallen lassen. bild: Gepa Pictures

Die Fans

Mich faszinieren die Zuschauerströme am Lauberhorn. Im Starthaus oben begleitet dich schon eine Menschenmasse an den Start. Die bilden da eine richtige Gasse. Da kommst du dir manchmal vor wie der Affe im Zoo. Die beobachten dich bei jeder Bewegung und sind extrem nahe. 

Manchmal dachte ich mir: Die Nähe zum Fan ist ja schon schön, aber beim FC Bayern-München stehen die Fans vor dem Spiel ja auch nicht in der Garderobe und wollen noch ein Foto oder ein Autogramm. Aber am Lauberhorn ist das so. Das ist einerseits sehr cool, andererseits zuweilen auch skurril. Ich muss aber sagen, dass die Fans sich sehr anständig verhalten.

Volksfest Lauberhorn

Das Lauberhorn ist kein Champagner- und Kaviarfest. Das ist ein richtiges Skivolksfest. Du triffst auch immer wieder die gleichen Leute, das ist cool. Meine zwei Lauberhornhelden sind Viktor Gertsch, der langjährige OK-Präsident und sein Vize-OK-Chef Fredy Fuchs. Das sind zwei grandiose Typen, das sind Legenden. 

Seit ich als junger Bub die Lauberhornrennen mitverfolge, haben sich diese zwei Namen in mein Hirn eingebrannt. Als ich sie zum ersten Mal persönlich kennenlernen durfte, hatte ich echt grossen Respekt. Und als ich vergangenes Jahr zum Abschied von Viktor die Laudatio halten durfte, war das eine grosse Ehre für mich.

Das Rennwochenende in Wengen zieht die Massen an. 
Das Rennwochenende in Wengen zieht die Massen an. Bild: EPA/KEYSTONE

Mein schönstes Erlebnis

2009 entschied ich mich, noch eine letzte Saison anzuhängen. Ich stand schon bei fast jeder Abfahrt einmal auf dem Podest, ausser am Lauberhorn. Ich hatte also noch eine einzige Chance. So tat ich alles, um dieses eine Ziel zu erreichen. Ich legte mein ganzes Sommertraining so aus, dass ich nicht nur zwei Minuten, sondern eben zweieinhalb Minuten durchhalten konnte. 

Doch ich startete schlecht in meine letzte Saison und ich erinnere mich, wie mich Didier Cuche motivierte. Er sagte: Bleib dran Junge, dieser Podestplatz am Lauberhorn ist für dich so wichtig. Glaub an dich. Wenn du dein Ziel erreichst und am Lauberhorn auf dem Podest stehst, war es der ganze Aufwand wert. Er wusste, dass ich es drauf habe und hat mich unterstützt. Das war richtig cool.

Ich kam dann nach Wengen und habe das als meine Abschlussprüfung im Skizirkus betrachtet. Ich wusste haargenau, wie ich was zu fahren hatte. Ich wusste nur nicht, welchen Skischuh ich nehmen sollte. Es war ein Dilemma. Da war der achtjährige, ausgelutschte Schuh, der grandios war in den Gleitpassagen, dafür nicht optimal in den Kurven. Da war der einjährige Schuh, der super hielt in den eisigen Kurven, dafür auf den Gleitpassagen nicht optimal war.

Ich entschied mich für den alten Schuh, nahm noch eine hauchdünne Veränderung vor und hoffte. Ich startete mit Nummer 9 und nahm das Risiko auf mich. Es ging auf. Als ich mit rund acht Zehntel Vorsprung ins Ziel kam jubelte ich, als hätte ich das Rennen gewonnen. Ich wusste, ich hätte nicht besser fahren können, deswegen habe ich gejubelt. Letztendlich reichte es zum dritten Rang. Es war einer der schönsten Tage meines bisherigen Lebens.

Was für eine Fahrt! Marco Büchel fährt im Alter von 38 Jahren in Wengen auf's Podest.video: youtube.com/Hans Heureka

Die Party

Die Siegerehrung allein vor all diesen begeisterten Fans ist ja schon unvergesslich. Jedes Jahr treffe ich auch die Jungs von Patrouille Suisse am Lauberhorn. Die sind grandios. Nach meinem Podest haben wir zusammen gejubelt und gefeiert. In Wengen findet ja jedes Jahr eine riesige Party statt, ein richtiges Volksfest.

Aber an jenem Abend lag ich um zehn Uhr abends im Bett. Ich war dermassen kaputt, vollkommen fix und fertig. Ich lag todmüde im Bett und wollte nur schlafen. Aber kaum hatte ich das Licht gelöscht, musste ich brutal grinsen. Also wälzte ich mich auf die andere Seite und wollte schlafen. Aber ich konnte nur grinsen, so ging es fast die ganze Nacht.

Marco Büchel posiert mit den Piloten von Patrouille Suisse.
Marco Büchel posiert mit den Piloten von Patrouille Suisse.bild: eddy risch

Mein Lauberhorn

Bisher kannte ich die Region Wengen besser von meinen vielen Basejump-Ausflügen im Sommer. Aber im Winter, da ist es nochmals eine andere Geschichte. Es ist sehr verträumt, romantisch, die Zeit ist da oben irgendwie stehen geblieben. Es ist autofrei, gibt lediglich ein paar vereinzelte Elektroautos oder Taxis und auch viele Hotels sind noch ganz im Charme der 40er, 50er oder 60er Jahre.

Für uns Athleten ist das grundsätzlich cool, aber weil wir dort sind um zu arbeiten, kann es schon hin und wieder etwas nerven. Das fängt am Morgen an, wenn die Bahn von Interlaken nach Wengen kommt und die Züge schon voll sind mit Skifans und Touristen. 

Am 11. März 2010 nimmt Büchel Abschied vom Profisport. Doch die Erinnerungen an Wengen bleiben für die Ewigkeit. 
Am 11. März 2010 nimmt Büchel Abschied vom Profisport. Doch die Erinnerungen an Wengen bleiben für die Ewigkeit. Bild: EPA

Ab Wengen sollten wir Athleten ja dann auch noch hinauf zur kleinen Scheidegg. Bei den Trainings geht’s ja noch, aber beim Rennen sind die Bahnen oftmals voll. Es gab schon auch Sonderzüge für uns Athleten. Aber wenn die schon voll waren, dann mischte man sich halt unter's Volk. Das kann manchmal ganz schön schwierig sein. Hin und wieder gab's aber auch witzige Gespräche.

Später fährst du mit dem Sessellift rauf aufs Lauberhorn. Dort stehst du dann am Start und das zieht dir fast die Schuhe aus, so schön ist das mit Eiger, Mönch und Jungfrau. So ein Panorama gibt es bei keinem anderen Weltcuprennen, das ist einzigartig und spektakulär.

Das Berner Oberland ist einfach brutal schön. Diesen Sommer rannte ich als Teilnehmer des Jungfrau-Marathons sogar zum ersten Mal den Berg rauf. Man kann sagen, ich hab diese Region brutal gern – Wengen und die ganze Region mit all den Erinnerungen – das ist fast wie mit einer alten Liebe. Laufe ich durch Lauterbrunnen oder Wengen, ist es wie Heimkommen.

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