Es gibt diesen einen Moment, der ziemlich viel über Wendy Holdener sagt. Er jährt sich ausgerechnet am Tag des WM-Slaloms der Frauen zum ersten Mal. Es ist der 16. Februar 2018: Wendy Holdener führt im Olympia-Slalom nach Durchgang eins. Dann steht im zweiten Lauf nur noch sie oben am Start. Alle anderen Athletinnen sind im Ziel.
20 Hundertstelsekunden beträgt ihr Vorsprung auf Frida Hansdotter. Mikaela Shiffrin ist geschlagen. Die Frau also, die im Weltcup so oft vor der Schweizerin stand, wenn diese auf das Podest fuhr. Neunmal war Holdener im Weltcup schon Zweite, siebenmal hinter der Amerikanerin.
Nur beim ersten Mal auf dem Podest, als Shiffrin erst 18 Jahre alt war, war die Schweizerin als Zweite besser. Beim zweiten Mal war Shiffrin verletzt. Doch gewonnen hat Holdener nie. Bis heute sind es bereits 20 Weltcup-Podestplätze im Slalom ohne Sieg. Dazu kommt Rang zwei an der Heim-WM 2017 in St. Moritz. Hinter? Genau: Mikaela Shiffrin.
Nun also ist die grosse Chance da. Ausgerechnet im Olympia-Slalom, dem Highlight, das nur alle vier Jahre stattfindet. Und ...
... Wendy Holdener wird Zweite. Nur fünf Hundertstel hinter Hansdotter. Ein kollektiver Schrei halt durch die Kehlen der Schweizer Fans: Neiiiiiin! Und was macht Holdener? Sie reisst die Arme in die Höhe und jubelt: Silber gewonnen, nicht Gold verloren.
So tickt Wendy Holdener. Sie selbst sagt, sie habe Angst, zu verlieren. Aber es brauche Risiko, um zu gewinnen. Sie lernt es, dieses einzugehen. Aber kann man ihr etwas vorwerfen? So erfolgreich wie sie ist?
Der Österreicher Hubert Strolz fuhr in den 1980er-Jahren 18 Mal im Riesenslalom auf das Podest und holte 1988 Olympia-Silber in dieser Disziplin. Doch gewonnen hat er bis zu seinem Karriereende nie. Er wurde zum ewigen Zweiten und trotzdem sagte er einst, er bereue nichts, er habe sich über jeden Podestplatz gefreut. Das Siegerthema sei eines der Medien.
Hubert Strolz gewann Olympia-Gold in der Kombination und ein Rennen im Weltcup in der gleichen Disziplin. Es ist eine weitere Parallele zu Holdener, die Doppel-Weltmeisterin, Olympiasilbergewinnerin und zweifache Weltcupsiegerin in der Kombination ist. Nur ein Sieg in ihrer Paradedisziplin Slalom fehlt ihr bis heute. Wendy Holdener hält nun mit 20 Podestplätzen ohne Sieg den Negativrekord.
Nach Åre ist Wendy Holdener mit einem Privatjet gereist. Zusammen mit Mikaela Shiffrin. Das hat der 25-Jährigen gutgetan, vielleicht sogar etwas vom riesigen Respekt vor der Dominatorin aus den USA genommen. «Es war ein tolles Erlebnis. Völlig anders, als gegeneinander antreten zu müssen», sagte Holdener danach.
Wenn Shiffrin von Holdener spricht, lobt sie die Schweizerin. Bei Holdener sehe sie das Feuer, das sage, ich schlage dich. «Ich habe Petra Vlhová und Wendy Holdener hier in Åre auf der Rechnung. Als die Frauen, die mich hier schlagen können.»
Wendy Holdener ist viel mehr als die ewige Zweite. Dieser Ruf würde ihr niemals gerechnet. Trotzdem wäre es der perfekte Zeitpunkt, um erstmals auch im Slalom zu gewinnen.
Die WM in Åre würde als der Moment in die Geschichte eingehen, als sich Holdener von Mikaela Shiffrin emanzipierte. Angst muss die Schweizerin keine haben. Wenn sie bereit ist, zu riskieren, ist alles möglich. Slalom-Weltmeisterin Wendy Holdener? Unbedingt! (aargauerzeitung.ch)