Gäbe es die Skirennen am Lauberhorn nicht schon seit 88 Jahren, es würde sie heute wohl niemand mehr erfinden. Zu aufwendig ist die Anreise ins autofreie Wengen mit der Zahnradbahn. Zu eigenartig ist die Streckenführung – beispielsweise die Fahrt durch den Tunnel bei der Wasserstation – auf der längsten Abfahrt der Welt.
Doch trotz oder gerade wegen all der Eigenheiten sind die Rennen ein Highlight im jährlichen Programm des Skiweltcups. Die Athleten lieben den Anlass genauso wie die Ski-Fans. Wo sonst sitzen Beat Feuz und Co. mit den Fans gemeinsam im Zug hinauf zum Start? Wo sonst ist das Panorama so wunderbar? «Allein der Blick aus dem Starthaus ist die Reise wert», sagt der Österreicher Hannes Reichelt. «Das Lauberhorn hat etwas Mystisches», sagte der langjährige TV-Kommentator und heutige FCSG-Präsident Matthias Hüppi einst.
Kurz: Der Klassiker am Lauberhorn ist aus dem Sportjahr nicht mehr wegzudenken. Trotzdem ist der Anlass, der ab heute zum 88. Mal stattfindet, in Gefahr. «Die Herausforderungen werden immer grösser», sagt Urs Näpflin, der Präsident des Organisationskomitees. In diesem Jahr hat ein heftiger Föhnsturm in der Nacht auf Dienstag grosse Teile der Gästeinfrastruktur zerstört. «Der finanzielle Schaden ist riesig», sagt Näpflin.
Immerhin sind die Rennen gesichert. Die Wetterprognosen für das Wochenende sind gut. «Zum ersten Mal seit drei Jahren können wir mit einer Abfahrt vom Originalstart rechnen», sagt Näpflin. 2017 musste die Abfahrt wegen schlechten Wetters abgesagt werden, 2016 wurde die Strecke deutlich verkürzt.
Dennoch gibt es drei Probleme, welche die Zukunft der Lauberhorn-Rennen langfristig gefährden.
In den vergangenen zwei Jahren haben die Renn-Organisatoren zusammen mit den Jungfraubahnen gut 2.5 Millionen Franken in die Beschneiungsanlage am Lauberhorn investiert. Ohne Kunstschnee sind Weltcuprennen im Berner Oberland unmöglich. Schon 1997 wurde die Abfahrtspiste mit einer künstlichen Schneeversorgung ausgestattet. «Wir waren die Ersten, die eine ganze Piste komplett von oben bis unten beschneien konnten», sagt Näpflin. Die baulichen Massnahmen bedurften damals sogar einer Volksabstimmung, die gewonnen wurde.
Würde eine solche Investition auch heute gutgeheissen? «Von der Anlage profitiert der Tourismus», sagt Näpflin. «Die Talabfahrt nach Wengen ist dank Kunstschnee die ganze Saison offen.» Die Beschneiungskapazität konnte verdoppelt werden. Zudem ist es nun dank eines Kühlturms möglich, selbst bei zwei Grad plus Schnee zu erzeugen. Das sichert auch die Rennen langfristig, ist Näpflin überzeugt. «Das war eine wichtige Investition in die Zukunft des Events.»
Alles gut also? «Nein», sagt selbst Näpflin. «Der Aufwand, ein Skigebiet zu betreiben, ist in den vergangenen Jahren gewaltig gestiegen, während die Erträge sinken.»
Warum also investieren die Jungfraubahnen trotzdem ins Skigeschäft, statt sich voll und ganz auf die Reisen hinauf zum Jungfraujoch zu konzentrieren? «Ohne den Wintersport gäbe es in den Tälern weniger Hotels. Das Jungfraujoch ist zwar die wichtigste Einnahmequelle für die Bahn. Aber ohne Hotelbetten könnte auch die Jungfraubahn keine Touristen mehr anlocken», sagt Näpflin. Doch reicht die Investition in Schneekanonen, um die Hotellerie beispielsweise in Wengen zu retten?
Der internationale Skiverband FIS hat für die Durchführung von Weltcuprennen klare Regeln. So muss ein Veranstalter sämtliche Teammitglieder (Athleten, Trainer, Betreuer, Serviceleute, Physiotherapeuten etc.) aller teilnehmenden Nationen direkt vor Ort unterbringen können. Das Abfahrtstraining gestern bestritten 84 Athleten aus 19 Nationen. Und immer mehr Athleten bedeuten gleichzeitig auch immer mehr Begleitpersonen. «Alle unterzubringen, wird für uns zunehmend zu einem echten Problem», sagt Näpflin. Weil die Anzahl Hotelbetten in Wengen eher ab- statt zunimmt.
Das hat vor allem finanzielle Gründe. «Einst war die Hotellerie der Motor von Wengen», sagt Näpflin. «Heute können die Hotelbesitzer nur knapp ihre Fix-Kosten decken. Für Modernisierungen oder Innovationen fehlt das Geld.» Es ist ein Teufelskreis. Ohne die nötigen Auffrischungen bleiben die Touristen weg. Und ohne Gäste fehlen die Mittel für Erneuerungen.
Die Folge: Viele Hotels, die seit Jahren in Familienbesitz sind, haben Mühe, die Nachfolge zu regeln. «Ich verstehe sogar, dass die Kinder lieber weggehen», sagt Näpflin. «Die Jugendlichen sehen, wie die Eltern an 365 Tagen 15 Stunden arbeiten und trotzdem nichts bleibt. Da wollen sie lieber etwas anderes tun als das.»
Ein wenig Hoffnung gibt es trotzdem. Seit einigen Jahren hat sich das Reiseverhalten von Asiaten geändert. «Statt in Gruppen in einem Tag auf das Jungfraujoch und zurück zu reisen, buchen Touristen aus Japan individuell und bleiben mehrere Nächte in Wengen», sagt Näpflin. Dies und die steigende Beliebtheit der Region bei Touristen aus dem arabischen Raum hat dazu geführt, dass erste Hotels in Wengen neue Besitzer finden. «Bisher war der Winter immer Hochsaison. Nun zeichnet sich eine Trendwende ab. Das Sommergeschäft könnte bald wichtiger werden», sagt Näpflin.
Das wiederum wäre ein Grund, der gegen Investitionen in Beschneidungsanlagen spräche. Urs Näpflin sieht das anders. «Es braucht alles. Auch der Wintersport leistet einen Deckungsbeitrag. Ohne den Skisport könnten die Hotels hier genauso wenig überleben wie ohne das boomende Sommergeschäft.»
Organisieren Näpflin und sein Team also bald Skirennen im Januar und zum Beispiel ein Mountainbikerennen im Sommer? Der OK-Chef lacht und sagt: «Wir müssen schon schauen, dass wir im Winter drei Bewerbe behalten.»
Das Rennwochenende am Lauberhorn wird heute mit einer Kombination eröffnet. Der Mix aus einer Abfahrt am Morgen und einem Slalom am Nachmittag hat in Wengen am Freitag eine lange Tradition. Doch die FIS will das ändern. Die Kombination steht ab 2020 nicht mehr im Weltcupkalender. «Um finanziell zu überleben, brauchen wir zwingend drei Wettbewerbe», sagt Näpflin.
Gibt es Hoffnung? «Wir tun alles, um die Kombination zu behalten», sagt Näpflin. «Fliegt die Disziplin aber nach den Winterspielen im Februar in Südkorea aus dem Olympia-Programm, ist das Format tot. Die FIS hat dann endgültig kein Interesse mehr, daran festzuhalten.»
Wie sieht dann der Plan aus, damit die Organisatoren auch künftig an drei Tagen Rennen in Wengen durchführen können, um die wichtigen Sponsoren- und TV-Gelder zu erhalten? «Es besteht die Idee, am Freitag eine Sprintabfahrt mit zwei Durchgängen durchzuführen», sagt Näpflin. Wie im Slalom und Riesenslalom schon heute üblich, würden sich bei diesem Format die besten 30 Athleten für den zweiten Lauf am Nachmittag qualifizieren und die Rennzeit beider Fahrten den Sieger bestimmen.
Die Idee dahinter ist einfach: Die FIS möchte ihre Stars dem Publikum so oft wie möglich präsentieren. Und viele Abfahrer gehören zu den Lieblingen der Szene. Näpflin bleibt kritisch und sagt: «Wir wollen die Kombi behalten.» Andererseits wird es schwierig, eine Disziplin am Leben zu halten, die sogar vom Weltmeister wenig Support erhält. Luca Aerni sagt: «Ein Sieg in einem Weltcupslalom wäre für mich mehr wert als meine WM-Goldmedaille von St. Moritz.» Und Carlo Janka, der die Kombi in Wengen schon zweimal gewonnen hat und insgesamt fünfmal auf dem Podest stand, sagt: «Von mir aus kann man diese Disziplin gerne streichen.»
So oder so. Die Veranstalter werden alles dafür turn, dass Feuz und Co. auch künftig nach dem Lauberhornsieg von den Rennen in Wengen schwärmen können. Feuz sagt: «Für mich gibt es in jeder Saison wenig wirklich wichtige Rennen. Im Weltcup sind das die Abfahrten in Kitzbühel und Wengen. Dazu kommen noch Weltmeisterschaften und Olympische Spiele.» Wenn es das Lauberhornrennen nicht gäbe, Feuz würde es erfinden.