Ein wenig grossspurig wirkte die Ansage schon. Sofia Goggia sass mit geschwollener Hand am Freitagnachmittag in einem Auto Richtung Mailand und teilte ein Video in den sozialen Medien. In die Kamera sagte sie unter anderem: «Wir sehen uns morgen wieder im Starthaus.» Stunden zuvor prallte sie in der Abfahrt gegen ein Tor und brach sich die linke Hand.
Klar, Goggia, die Draufgängerin. Es ist ein Image, das sie seit Jahren mit waghalsigen Auftritten unterfüttert. Nur: Übersteuert sie jetzt nicht ein bisschen zu sehr? Ist es möglich, am Freitag kurz nach Mailand zu fahren, sich dort den Bruch am zweiten sowie dritten Mittelhandknochen operieren zu lassen und am Samstag die Weltcup-Abfahrt von St. Moritz zu bestreiten?
⛷🤩 | Sofia Goggia zet net de snelste tijd neer, maar zo ziet haar hand eruit. Ze skiede met gebroken vingers. 🇮🇹🦴️ pic.twitter.com/oGWngogAK8
— Eurosport Nederland (@Eurosport_NL) December 17, 2022
Die Erkenntnis vom Samstag lautet: Ja, es ist möglich. Zumindest für Goggia. Die 30-jährige Italienerin aus Bergamo stand tatsächlich am Samstagvormittag im Starthaus. Die Kameras fanden Gefallen daran, Bilder der Hand einzufangen. Es war ein schmerzhafter Anblick. Schwellungen, Blutspuren, ein mehrfach um die Hand gewickeltes Tape. Für Aussenstehende sah es nicht nach einer Hand aus, die auf einer Weltcup-Abfahrt in Erscheinung treten sollte.
Nach dem Rennen sagte Goggia: «Es ist nur eine Hand. Klar, es war ein bisschen risikoreich, aber ich wollte heute unbedingt gewinnen.»
Joana Hählen, die beste Schweizerin auf Rang 9, sagte: «Unglaublich. Ich habe riesigen Respekt für Sofia. Ich weiss nicht, wie sie das gemacht hat.» Die einbandagierte Hand war für Goggia ein Handicap. Das zeigten auch ihre Zeiten in den ersten beiden Sektoren. Goggia konnte sich nicht konsequent genug abstossen und lag bis zur zweiten Zwischenzeit auf Rang 6. Im unteren Teil drehte sie aber immer mehr auf und übernahm die Spitze.
Michelle Gisin, die erneut bei der Mauritius-Kurve, der Schlüsselstelle der Strecke, Probleme hatte und den 15. Platz belegte, sagte: «Sofia ist unglaublich. Wenn eine sowas machen kann, dann sie. Es ist mirakulös, wie viel sie riskiert. Das kann ich auch nicht in einem topfitten und komplett gesunden Zustand.» Gisin fand noch mehr lobende Worte. «Sofia hat den ganzen Nachmittag im Spital verbracht. Dann kam sie spätabends zurück nach St. Moritz. Und heute liefert sie so ab. Das ist sehr beeindruckend.»
Jasmine Flury, Zehnte und nebst Hählen die einzige Schweizerin in den Top Ten, sagte es so: «Wenn ich so einen Vorfall hätte, bräuchte ich zwei oder drei Rennen Pause. Das schafft nur Goggia. Es ist mega bewundernswert.»
Die Plätze zwei und drei hinter Goggia belegten die Slowenin Ilka Stuhec und die Deutsche Kira Weidle. Stuhec, die in diesem Frühjahr einen Markenwechsel von Stöckli zu Kästle vollzog, stand erstmals seit Januar 2019 wieder auf dem Podest. In St. Moritz gelang ihr vor fast sechs Jahren ihre erste Medaille bei einem Grossanlass, als sie Abfahrtsweltmeisterin wurde.
Im Gegensatz zum Vortag blieb Corinne Suter der Sprung aufs Podest verwehrt. Suter beendete das Rennen auf Platz 14 und verpasste damit erstmals in dieser Saison das Podium in einem Speedrennen. Die Schwyzerin sagte: «Ich kam nie richtig rein, es ging einfach nicht richtig vorwärts.» Als es ihr einmal den Aussenski verschlug, konnte sie mit viel Glück einen Sturz verhindern. Für Goggia, ihre Konkurrentin in der Abfahrtswertung, hatte sie nette Worte übrig: «Es wäre fast schade gewesen, wenn sie es nach diesen guten Trainingsleistungen nicht gewonnen hätte. Hut ab.» (aargauerzeitung.ch)