Nein, es war nicht der beste Sonntag der Saison. Nicht für Lara Gut-Behrami, die gleich um die Ecke unterwegs war, in Crans-Montana. Und auch nicht für Marco Odermatt, der weit oben im Norden am Start stand, in Kvitfjell, Norwegen. Die Tessinerin fuhr im Wallis im Super-G auf Rang sechs. Der Nidwaldner schaffte es in jenem von Kvitfjell auf den dritten Platz.
Wahrscheinlich hatten sich beide insgeheim mehr ausgerechnet; als sie ins Ziel fuhren, wirkten jedenfalls weder Odermatt noch Gut-Behrami sonderlich zufrieden – auch wenn sie danach bekräftigten, das zu sein. Sowieso gilt für beide, was diesen Winter fast immer gilt: wieder im Ziel. Wieder Punkte gesammelt, viele davon.
Und wenn das so weitergeht, wie es bisher immer weitergegangen ist, dann wird das am Ende eine Skisaison werden, wie es sie noch gar nie gegeben hat. Nicht in der Geschichte des Schweizer Skisports. Und auch nicht in der Geschichte irgendeines anderen Landes, seit der Weltcup im Jahr 1967 aus der Taufe gehoben wurde.
Gut-Behrami fuhr am Sonntag im Super-G 40 Punkte ein. Für den dritten Platz am Vortag in der Abfahrt bekam sie deren 60. Odermatt wiederum sammelte am Sonntag 60 Punkte; am Samstag waren es 35 für Platz sieben in der Abfahrt.
Warum das wichtig ist, selbst in diesem Detailgrad? Weil die beiden gerade auf einer historischen Mission unterwegs sind. Und weil dabei jeder Punkt zählt.
Gut-Behrami führt derzeit im Gesamtweltcup, dazu in den Disziplinenwertungen für Abfahrt, Super-G und Riesenslalom. Und weil Odermatt das auch tut, und weil das Saisonende naht, wächst die Chance, dass Gut-Behrami und Odermatt am Ende tatsächlich vier Kristallkugeln gewinnen, also: je vier.
Es gibt nicht viele Fahrer, denen das schon einmal gelungen ist. Bei den Frauen war es zuletzt Mikaela Shiffrin in der Saison 2018/19; bei den Männern vollbrachte Hermann Maier als Letzter das Kunststück, in der Saison 1999/2000.
Jetzt können Gut-Behrami und Odermatt das im gleichen Winter schaffen, als erstes Duo überhaupt. Eine Schweizerin und ein Schweizer und acht Kugeln: Das gab es nur in den goldenen 1980er-Jahren einmal. Damals holte Pirmin Zurbriggen fünf Stück, darunter die Kombination, die heute nicht mehr gefahren wird - und Maria Walliser drei.
In Crans-Montana baute Lara Gut-Behrami ihren Vorsprung im Gesamtweltcup aus und übernahm die Führung in der Abfahrtswertung. Marco Odermatt wiederum vergrösserte im Abfahrtsweltcup seinen Vorsprung auf Cyprien Sarrazin. Letzterer musste in Norwegen aussetzen, weil er gestürzt war. So, wie Mikaela Shiffrin, die grösste Gesamtweltcup-Konkurrentin von Gut-Behrami, in Crans-Montana aussetzen musste. So, wie Sofia Goggia, die in der Abfahrtswertung einst klar vor Gut-Behrami lag, diesen Winter wegen einer Verletzung gar nicht mehr fahren wird.
Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Mit Marco Schwarz, dem Österreicher, der Odermatt im Gesamtweltcup auf den Fersen war. Mit Aleksander Kilde, der ihm in der Abfahrt das Leben hätte schwer machen können. Mit Petra Vlhova, die immer eine Kandidatin für den Gesamtweltcup ist.
Sie alle sind diesen Winter gestürzt, wurden von irgendeiner Weltcup-Piste abgeworfen. Fehlen verletzt, mal für ein paar Rennen, mal den Rest der Saison. Nur Gut-Behrami und Odermatt sind immer da, und darum geht es ja am Ende: schnell sein, klar. Aber natürlich auch: im Ziel sein. Niemand schafft es im Weltcup besser als sie, die Balance zwischen Risiko und Sicherheit zu finden.
Gut-Behrami schied in dieser Saison erst einmal aus, in Val d'Isère war das; letztmals gestürzt ist sie 2021 in St. Moritz – und in den letzten 133 Rennen nur ein einziges Mal. Odermatt kam diese Saison immer ins Ziel. Sein letzter Ausfall im Weltcup liegt schon Jahre zurück, 2019, Beaver Creek, Riesenslalom. Zudem schied er zwei Mal bei Grossanlässen aus: an der WM 2021 im Riesenslalom, bei Olympia 2022 im Super-G.
Stefan Abplanalp ist Ski-Experte beim Schweizer Fernsehen. Zuvor war er viele Jahre im Ski-Weltcup unterwegs, unter anderem als Trainer des amerikanischen Superstars Lindsey Vonn. Er sagt, Gut-Behrami und Odermatt hätten beide die Fähigkeit, «im richtigen Moment das Richtige zu machen». Sie spielten mit der Intensität. Gingen ans Limit, wenn es möglich ist, und nähmen Risiko raus, wenn es nötig ist. «Das hat auch viel mit Instinkt zu tun», sagt Abplanalp.
Auch Hans Flatscher, der Alpinchef des Schweizer Skiverbands, sagt, dass Odermatt und Gut-Behrami diese Gabe hätten, aus dem Bauch heraus zu fahren. Zum Risikomanagement gehört für ihn auch das Wort Belastungssteuerung. «Risiko hat ganz viel mit Belastung zu tun, die Chance, sich zu verletzen, ist grösser, wenn man nicht ganz frisch ist», sagt er. Das hätten beide hervorragend im Griff – auch, weil sie gut beraten würden. Und dann seien beide auch körperlich auf einem Top-Level, dank vieler Stunden Training im Sommer.
Gut-Behrami und Odermatt vereint, dass sie genau wissen, wann was geht, was ihr Körper gerade zulässt - und was nicht. Und falls doch einmal etwas Ausserplanmässiges passiert, schauen sie, dass es nicht allzu schlimm endet. So wie Gut-Behrami, die es in Val d'Isère in Kauf nahm, ein Tor auszulassen. Lieber nicht stürzen. Lieber nicht im Spital landen.
Darüber – nicht im Spital zu landen – sprach die Tessinerin zuletzt immer wieder. Ihre letzte schwere Verletzung erlitt sie 2017 an der WM in St. Moritz. In Crans-Montana erzählte sie, danach habe sie gelernt, dass «Vollgas nicht immer die Lösung» sei. Es Tage gibt, die man einfach überstehen muss. Auch im Wallis erlebte sie so einen. Vor der zweiten Abfahrt vom Samstag muss sie sich vor Müdigkeit übergeben. Danach schafft sie es doch noch auf Platz drei. (aargauerzeitung.ch)
Bei Gut-Behrami ist es ähnlich, aber Shiffrin ist eigentlich auch so eine Fahrerin. Trotzdem ist es bei ihr schiefgegangen.