Die Episode spielte sich vor über 20 Jahren ab, aber Bea Gisin erinnert sich genau. Als die Sommerferien näherkamen, realisierte sie plötzlich, dass sie eine Nichtschwimmerin in der Familie hatte. Die älteren beiden Kinder Dominique und Marc konnten schwimmen, die fünfjährige Michelle nicht. Weil die Familie ans Meer wollte, war das nicht optimal. Also nahm Bea Gisin, eine ausgebildete Sportlehrerin, Michelle an der Hand und ging ins Hallenbad. «Nach drei Tagen konnte sie bereits selbstständig schwimmen», sagt Bea Gisin. Sie scheint es heute noch kaum zu glauben, wie schnell dieses Mädchen lernte.
Michelle Gisin, 27, stammt aus einer Familie, die für den Sport lebt. Im Elternhaus hatte es Bälle in allen Grössen und Sportgeräte aller Art. Auch Vater Beat ist Sportlehrer, die Eltern besitzen ein Sportgeschäft mitten in Engelberg. Michelle ist eine Nachzüglerin, Schwester Dominique ist acht Jahre älter, Bruder Marc fünf. Sie war nicht eines dieser seltenen Wunderkinder wie Mikaela Shiffrin, die schon als 17-Jährige auf höchster Stufe ältere Athletinnen dominieren konnte. Gisins Karriere im Weltcup startete vielversprechend, doch die Fortsetzung verlief sehr gewöhnlich. Im Januar 2013, in ihrem dritten Weltcup-Slalom, landete sie bereits in den Top 10. Dann verstrichen aber fast sieben Jahre, bis sie den ersten Podestplatz im Slalom feiern konnte.
Während die Slalom-Ergebnisse stagnierten, näherte sich Gisin den Speeddisziplinen an. Den Slalom vernachlässigte sie zwar nie, doch in der öffentlichen Wahrnehmung wurde sie zur Speedfahrerin. In den schnellen Disziplinen fuhr sie praktisch auf Anhieb Podestplätze ein. Was ihr an Erfahrung fehlte, machte sie mit dem Gespür für das Tempo, mit ihrer Intuition wett. Dominique Gisin, 2014 Olympiasiegerin in der Abfahrt, sagt: «Im Speed ist es ihr viel zu schnell viel zu gut gelaufen. Plötzlich wurde geschrieben, dass sie deswegen nicht mehr so gut Slalom fahre. Doch sie trainierte nie mehr als sechs oder sieben Tage Speed im Sommer.» Im Training hatte sie sich hauptsächlich nach wie vor an Tausenden Slalomtoren abgemüht – doch die Schlagzeilen machte sie mit ihren Ergebnissen in der Abfahrt.
Jetzt korrespondieren Trainingsaufwand und Resultate im technischen Bereich besser. Ende Dezember hat Michelle Gisin im Slalom für den ersten Schweizer Frauen-Sieg seit fast 19 Jahren gesorgt. Hinzu kommen ein zweiter und ein dritter Platz. Im Riesenslalom scheint der Podestplatz nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Dominique Gisin sagt: «Sie fährt auf einem Level, auf dem ich nie war.»
In den Speedrennen von Val d’Isère fuhr sie mit einer gewissen Sicherheit und zweimal in die Top 10. Das gefiel auch ihrem Trainer Alois Prenn. Der Südtiroler sagt: «Sie ist nicht hirnlos hinuntergeschossen, sie war der Chef auf den Ski.» Das erwartet Prenn auch dieses Wochenende in St. Anton. Dort geht es mit einer Abfahrt und einem Super-G weiter.
«Wenn ich sehe, mit welcher Leichtigkeit sie fährt, macht mir das enorm Freude», sagt Bea Gisin. Bei der Mutter selbst ist auch eine gewisse Last abgefallen, seit sich nur noch eines ihrer drei Kinder die Weltcup-Pisten hinunterwirft. Sie sagt: «Es gab Jahre, da startete Dominique in der Abfahrt von Cortina. Als das Rennen vorbei war, blieb eine Stunde Zeit, um durchzuatmen, dann stand Marc in Kitzbühel am Start.» Die schlimmen Stürze von Marc Gisin sind ein eigenes Kapitel. Sein letzter Sturz passierte im Dezember 2018 in Gröden, die Erinnerungen an die Bilder sind noch scharf.
In der gleichen Saison zog sich Michelle Gisin ihre bislang letzte Verletzung zu, eine Kreuzbandzerrung, kurz vor der Ski-WM. Auch weil der Unfall ihres Bruders an ihren mentalen Kräften zehrte, wie sie später erzählte. Bea Gisin sagt:
Schwester Dominique sieht das ähnlich. Dass der Rücktritt von Marc vor dem Saisonstart eine Befreiung für Michelle war, denkt auch sie nicht. «Man darf nicht vergessen: Ihr Freund fährt ja auch noch, und zwar wie ein Verrückter», sagt sie und schmunzelt. Es beschreibt den Stil des Riesenslalomspezialisten Luca De Aliprandini sehr treffend, despektierlich ist es nicht gemeint.
Alois Prenn war schon Trainer der Technikerinnen, als Michelle Gisin in den Weltcup kam. In den letzten Jahren sei sie reifer geworden, sagt er. «Sie steht mit beiden Füssen auf dem Boden. Nach einem Erfolg kann sie sich brutal freuen, eine Stunde später denkt sie nicht mehr daran. Die Resultate sind sicher mit ihrer mentalen Stärke zu erklären.» Prenn beschreibt auch, wie Corona dem Weltcup-Zirkus die Hektik entzogen hat, die Athletinnen könnten ohne den Rummel viel ruhiger arbeiten. Was vor allem für die Top-Athletinnen, die gewöhnlich viele Termine hätten, ein Vorteil sei. «Obwohl wir natürlich auf der anderen Seite gerne ‹a bisserl› mehr Kulisse hätten», betont Prenn.
Wohin der Weg von Michelle Gisin in diesem Winter führt, weiss niemand. Da nicht absehbar ist, wie Corona die Saisonplanung tangiert, macht es wenig Sinn, an überübermorgen zu denken. Dominique Gisin sagt, im Fokus stehe jeweils ausschliesslich das nächste Rennen. «Michelle hat in den letzten Jahren auf allen Ebenen enorm viel optimiert, damit sie in kurzer Zeit auf die kommende Disziplin umstellen kann.» Die Konstellation im Gesamtweltcup ist interessant. Es scheint so, als würden die führende Slowakin Petra Vlhova und die zweitplatzierte Gisin in allen Disziplinen auf einem ähnlichen Niveau fahren.
Mutter Bea sagt: «Ich hatte bislang immer das Gefühl, die sportliche Entwicklung von Michelle ist noch nicht abgeschlossen.» Auch sie erlebt ihre Tochter momentan sehr geerdet und mental gereift.
Und dann fügt sie an, mehr zu sich selbst als deutlich hörbar: «Sie ist kein Mädchen mehr.»