Wenn Roger Federer in den letzten zwei Jahrzehnten irgendwo auf der Welt einen Pokal in die Höhe stemmte, drückten nicht nur die Fotografen den Auslöser, sondern auch seine Frau Mirka. Ob mit Kamera oder Handy – die 44-Jährige sorgte immer dafür, dass die speziellen Momente in der Karriere des Tennisspielers auch fürs Familienalbum festgehalten werden.
Als Federer am Donnerstag, 15. September, kurz nach 15 Uhr Schweizer Zeit seinen Rücktritt bekanntgibt, ist er umgeben von seiner Frau Mirka und seinen Eltern Robert und Lynette, nicht aber den vier Kindern. Es ist eine kleine, intime Runde. Das hat seinen Grund. Denn die letzten Tage und Stunden werden von einem Kamerateam dokumentiert, wie er am Dienstag verrät. Er habe bisher kaum persönliche Aufnahmen von seiner Karriere. «Deshalb war mir wichtig, dass ich das mache», sagt Federer.
Er trägt Jeans und Pullover, bietet Kaffee an, als er am Dienstag in einem diskret gelegenen, schwach beleuchteten, aber gediegenen Raum in der Londoner O2-Arena einen Blick in sein Innenleben gewährt. Unauffällig aus einer Ecke filmend steht ein Mann, der mit seiner Kamera jede Geste, jede Gefühlsregung Federers aufzeichnet. Er ist auch dabei, als Federer zum ersten Mal seit seinem angekündigten Rücktritt Rafael Nadal trifft. Als Federer sich in der Kabine auf das öffentliche Training vorbereitet. Als er sich verpflegt. Beim Physiotherapeuten. Bei der Fahrt ins Hotel. Überall.
Auch wenn er den Zeitpunkt für richtig hält, wühlt Roger Federer dieser Abschied emotional auf. Er wird lachen und weinen – auf dem Platz, aber auch daneben, wenn normalerweise keine Kameras auf ihn gerichtet sind. Tränen, Freude, Trauer, auch Verzweiflung, die intimsten Momente einer Sportikone – das ist der Stoff, aus dem die Träume der Filmemacher sind.
Zwar sagt Federer, er wisse noch nicht, ob und in welcher Form er diese Aufnahmen verwenden wird. Aber es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie gross das Interesse bei Streamingdiensten sein wird.
Bestes Beispiel ist die zehnteilige Serie «The Last Dance», die Michael Jordans letzte Saison bei den Chicago Bulls dokumentiert. Während 22 Jahren hielt der Basketballer das exklusive Material unter Verschluss, ehe er es 2020 auf «Netflix» zugänglich machte. Mit überwältigendem Erfolg: Fast sieben Millionen Menschen schauten die Episoden im Durchschnitt.
Roger Federer bleibt Werbeträger und Unternehmer. Er will auch weiter Schaukämpfe spielen, um Geld für seine Stiftung zu sammeln. Federer wird nicht aus der Öffentlichkeit verschwinden, aber er erhält nun die Kontrolle darüber zurück, wann und wo er im Mittelpunkt stehen will.
Wegen Verletzungen hat er in den letzten zweieinhalb Jahren seiner Karriere nur noch 20 Spiele bestritten, trotzdem war er 2020 erstmals der bestverdienende Sportler der Welt. Auf 106 Millionen Dollar bezifferte das Wirtschaftsmagazin «Forbes» seine Einkünfte. Zwar hat Federer in seiner Karriere 130 Millionen Dollar an Preisgeld eingespielt, der Grossteil seines Vermögens, das auf eine Milliarde Dollar geschätzt wird, stammt aber aus Gagen, Werbedeals und Exhibitions wie 2013 und 2019 in Lateinamerika, als er innert einer Woche jeweils gegen 10 Millionen Dollar einspielte.
Auch künftig gibt es an ihm kein Vorbeikommen: Federer wirbt für Autos, Schokolade, Luxusuhren, Kaffeemaschinen und Champagner. Schon jetzt träumt Federer von einem Abschiedsspiel, das in sechs bis neun Monaten stattfinden soll. Real Madrid will ihn im Bernabéu-Stadion gegen Rafael Nadal spielen sehen. Das alles zeigt: Federer wird nichts von seinem Marktwert einbüssen. Weil er nicht nur als Sportler, sondern auch als Mensch für Werte wie Loyalität, Stabilität und Verlässlichkeit steht.
Federers Erfolge auf dem Platz sind nur ein Grund für seinen Reichtum, viel wichtiger sind die Werte, die er verkörpert, auch wenn ihn Kritiker zuweilen als profillos bezeichnen. Nachdem Tiger Woods wegen seiner Untreue für seine Partner zur Hypothek geworden war, wurden Stabilität, und Markentreue zu noch zentraleren Argumenten. Werte, die Roger Federer nicht nur als Sportler, sondern auch als Mensch verkörpert.
«Ich scherze immer: ‹Schau, du warst so erfolgreich auf dem Tennisplatz, aber ich verspreche dir, du wirst noch erfolgreicher, wenn du mit Tennis aufhörst›», sagte sein Manager Tony Godsick einmal zur «New York Times». Federer war es schon weit bevor er einen Schlussstrich zog.
Dass Federer die Tage seines Abschieds dokumentieren lässt, zeugt von unternehmerischer Weitsicht. Die Aufnahmen sind nicht nur der Stoff, aus dem Träume sind, sondern sie werden auch zur Millionen-Goldgrube. (aargauerzeitung.ch)