Roger Federer zählt zu jenen Menschen, die aus jedem Gespräch und aus jeder Begegnung Energie schöpfen. «Die Leute um mich herum sind eine Inspiration. Sie haben mich als Person weitergebracht, allen voran meine Frau Mirka und meine Eltern. Aber auch alle Freunde, die ich habe», sagte er jüngst zur «Welt am Sonntag».
Dazu gehörten auch seine Trainer, Severin Lüthi und Ivan Ljubicic, die für ihn «wie grosse Brüder» seien. Es hat Federer, längst nicht mehr nur Tennis- Ikone, sondern Unternehmer, Wohltäter und Vater von vier Kindern, geholfen, in einer Welt, in der man schnell erwachsen und noch viel schneller alt wird, jung zu bleiben.
So glamourös und aufregend es wirkt – auch das Leben in der Tennis-Karawane ist geprägt von zermürbenden Routinen: den immer gleichen Städten, den immer gleichen Stadien, Flughäfen, den gleichen Hotels und Fragen – unterbrochen von der Arbeit abseits des Schwenkbereichs der Kameras, im Fitnessraum oder in sengender Hitze.
Die meisten werden kurz nach dem 30. Geburtstag von diesem Karussell abgeworfen – der Körper zwingt sie dazu, oder andere Lebensbereiche sind wichtiger geworden – der Wunsch nach Heimat, Verwurzelung, die eigene Familie.
Bei Federer, der im August seinen 38. Geburtstag feiert, ist es anders. Er führt ein Leben, von dem er nie geträumt hatte, als er 2003 in Wimbledon den ersten von nun 20 Grand-Slam-Titeln feierte und sich anstellte, die Tennis-Geschichte neu zu schreiben.
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— Roger Federer (@rogerfederer) 25. Juni 2019
«Ich bin schockiert, und es macht mich auch ein wenig traurig, dass über zwanzig Jahre meines Lebens auf der Tour vorbei sind, denn ich hatte eine grossartige Zeit», sagt Federer. «Aber wie sagt man so schön: Wenn du Spass hast, vergeht die Zeit wie im Flug. Und zum Glück ist es noch nicht vorbei.»
2009 wurde Federer erstmals Vater. Nicht einmal er selber hatte damit gerechnet, zehn Jahre später immer noch Tennis zu spielen; geschweige denn, zu den Weltbesten zu gehören. Für viele Sportler bedeutet die Geburt der eigenen Kinder einen Karriereknick. Sind sie ohne den Nachwuchs unterwegs, leiden sie unter der Trennung, oder weil sich die Prioritäten verschieben, fehlt ihnen der Biss, der die Allerbesten von den Besten abhebt.
Federer aber, der Tennis immer in erster Linie als Spiel verstanden hat, hat es geschafft, auch daraus Kraft zu schöpfen. «Es ist schön, dass ich diese beiden Leben auf der Tour hatte – ohne Kinder und nun mit. Das hält mich jung.»
Roger Federer, das darf man nicht vergessen, ist einer der bestverdienenden Sportler der Welt. Er kann sich den Luxus einer perfekten Balance leisten. Federer reist mit seiner gesamten Entourage um den Globus: Frau, Kinder, Eltern, Trainer, Physiotherapeut, dazu die Nannys und Lehrer.
In Wimbledon sorgt sogar ein Koch für das leibliche Wohl der Federers, die während der knapp drei Wochen zwei Häuser im Südwesten Londons mieten. Dass Federer für mehr als eine Woche von der Familie getrennt ist, wie zuletzt während der French Open, bildet eher die Ausnahme denn die Regel.
So wichtig die Balance im Leben ist, so wichtig ist sie auf dem Tennis-Platz, will Federer auch im Alter von bald 38 Jahren noch um die grössten Titel spielen, wie es seinem Anspruch entspricht. Im letzten Jahr hatte ihm diese gefehlt. Nachdem er die Sandsaison ausgelassen und zwischen Ende März und Anfang Juni zwei Monate nur trainiert hatte, fehlten ihm die Referenzwerte gegen die Besten.
Der schlanke Turnierkalender hatte dazu geführt, dass er in einem halben Jahr nur vier Mal auf Gegner aus den Top 10 getroffen war. «Zu spielen und zu gewinnen, das sind zwei Paar Schuhe. Es braucht die richtige Balance zwischen Training, Matches und Ferien», hatte er damals gesagt. Und so zerbrach Federer am ersten Widerstand.
Bei der Niederlage im Wimbledon-Viertelfinal gegen Kevin Anderson hatte Roger Federer bei 2:0-Satzführung einen Matchball nicht nutzen können. Die Niederlage schmerzte ihn mehr, als er lange zugeben wollte.
Heute sagt er: «Wenn es einen Moment in meiner Karriere gibt, in dem ich besonders enttäuscht gewesen bin, war es dieser. Nach Matchball zu verlieren, war ein Horrorszenario für mich. Damals hatte sogar meine Familie Schwierigkeiten, mich aufzumuntern. Ich ging einfach in meinen Raum, legte mich aufs Bett und dachte: Das ist hart.»
Federer, der Meister der Planung, hatte es für einmal nicht geschafft, sein grosses Ziel zu erreichen. «Dann musst du dich hinterfragen.» Der Baselbieter hat seine Lehren daraus gezogen. Erstmals seit vier Jahren spielte er eine komplette Sandsaison, erreichte in Paris die Halbfinals.
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— Wimbledon (@Wimbledon) 28. Juni 2019
Dafür verkürzte er seine Rasensaison, gewann die Hauptprobe in Halle zum zehnten Mal. Zwar wurde Rafael Nadal in die gleiche Tableau-Hälfte gelost, womit es in den Halbfinals zum Duell kommen könnte. Doch viel wichtiger: «Ich bin gesund, gut vorbereitet und reise diesmal mit grossem Selbstvertrauen nach Wimbledon.» Auf und neben dem Platz: Roger Federer ist in perfekter Balance.