Sein Blick geht zum Boden, Andrej Rublew lacht verstohlen, und er fährt sich durch das wilde, rotblonde Haar, das er lange trägt. «Es ist witzig, aber natürlich auch sehr ernst», sagt der Russe, als er auf eine Notoperation angesprochen wird, der er sich im Sommer unterziehen musste, nachdem er Schmerzen im Unterleib verspürt hatte.
Die Diagnose: Hodentorsion. Hoden und Samenstrang waren verdreht und die Durchblutung blockiert.
Rublew sagt: «Fast hätte ich einen Hoden verloren. Ich hatte grosses Glück. Wenn das Blut mal aufgehört hat, zu fliessen, hat man nur fünf oder sechs Stunden Zeit für die Operation. Danach bleibt nur mehr die Amputation.»
Es war ein Ereignis, das zu einem Jahr passt, das für Rublew schon zuvor viele Herausforderungen mit sich gebracht hatte. Zwar gehört der 24-Jährige seit längerer Zeit zur erweiterten Weltspitze, stand schon zehn Mal in einem Grand-Slam-Viertelfinal (aber noch nie in einem Halbfinal) und gewann Anfang Mai in Madrid zum zweiten Mal ein Masters-Turnier.
Daneben ein freundlicher, fast schüchterner Zeitgenosse, verwandelt sich Rublew auf dem Tennisplatz regelmässig zu einem aufbrausenden Hitzkopf, der seine Emotionen nicht bändigen kann. Regelmässig verletzt er sich mit seinem Racket selber. Im Sommer bekannte er, dass er seit Jahren mit Depressionen kämpfe. «Im Leben gelang es mir lange, innerlich Ruhe zu bewahren, doch auf dem Platz, in Drucksituationen, begann ich immer öfter zu explodieren.» Innerlich sei er regelrecht ausgebrannt.
Den Tiefpunkt erreichte Rublew Anfang März, als sich die negativen Emotionen nicht gegen sich selbst, sondern einen Linienrichter richteten. Nachdem er den Mann aus nächster Nähe angeschrien hatte, wurde er disqualifiziert und ihm wurde zunächst das Preisgeld aberkannt. Rublew sagte, er sei nicht angehört worden, habe den Linienrichter nicht beschimpft und legte Berufung ein. Er wurde zwar gebüsst, durfte aber sein Preisgeld behalten.
Dennoch war es ein Weckruf, sagt Rublew vor den Swiss Indoors Basel, wo er bei seiner ersten Teilnahme als Topgesetzter zu den Aspiranten auf den Titel zählt. Nachdem er in Wimbledon in der Startrunde gescheitert war, nahm er sich eine kurze Auszeit, auch, um seine innere Mitte zu finden. Inzwischen steht er regelmässig mit einer Psychologin im Austausch.
Rublew sagt: «Jeder Mensch kämpft mit seinen Dämonen. Für mich geht es darum, negative Gefühle zu benennen, um Emotionen und wie ich mit diesen umgehen kann.» Veränderungen bräuchten Zeit und würden ihm viel abverlangen. Zudem habe er Meditation zu einer Routine gemacht.
Andrej Rublew geht es dabei nicht nur um den sportlichen Erfolg, sondern darum, gelassener durchs Leben zu gehen. «Denn alles hängt miteinander zusammen. Es geht immer um Aktion und Reaktion, auf und neben dem Platz. Wenn du dich im Leben nicht wohlfühlst, kannst du dich auch im Sport nicht auf das Wesentliche konzentrieren», sagt der 24-Jährige.
Nach seiner kurzen Auszeit und der Notoperation gelang ihm das zwar nicht überragend, aber ordentlich. Bei den US Open erreichte Rublew den Achtelfinal, in Cincinnati, Washington, Peking und zuletzt in Stockholm (Niederlage gegen Stan Wawrinka) den Viertelfinal und in Montreal den Halbfinal. In Basel geht es für ihn auch darum, zum fünften Mal in Folge den Final der acht Jahresbesten in Turin (ab 10. November) zu schaffen.
In der Startrunde trifft der 16-fache Turniersieger auf den Portugiesen Nuno Borges (27, ATP 32). Darauf angesprochen, welche Ziele er sich setzt, sagt Rublew: «Erwartung habe ich keine. Höchstens Hoffnungen.» Hoffnungen, gut zu spielen, und vielleicht das Turnier zu gewinnen.
«Doch ich kenne mich. Ich weiss, wie Tennis ist. Meistens geschieht nicht das, was man sich vorgestellt hat.» Es klingt nach schwierigen Monaten wie eine Erkenntnis. (aargauerzeitung.ch)