Aus Schweizer Optik lautet die Kernfrage? Wie stark kann sich Stan Wawrinka in London präsentieren? Im September triumphierte der 31-jährige Waadtländer am US Open in New York. Diesem Grosserfolg verdankt Wawrinka primär seine vierte Teilnahme hintereinander am Masters. Denn ohne die 2000 Weltranglistenpunkte aus Flushing Meadows läge Wawrinka im Ranking sogar hinter dem Österreicher Dominic Thiem, dem Neunten der Weltrangliste.
Seit dem erstmaligen Gewinn eines Schweizer Turniers in Genf Ende Mai und der verpassten Titelverteidigung in Paris Anfang Juni fehlt Wawrinka jegliche Konstanz. Nur dank des US-Open-Triumphs spricht bei Wawrinka niemand von einer Krise. Aber die Ergebnisse seit Anfang Juni dürften auch Wawrinka zu denken geben. Nur am Masters-1000-Turnier von Toronto verlor er gegen einen Top-10-Spieler (Kei Nishikori im Halbfinal).
Daneben setzte es zwei Erstrunden- und drei Zweitrundenniederlagen ab, nur viermal erreichte Wawrinka noch die Viertelfinals. Wawrinka kassierte in dieser Spanne Niederlagen gegen Fernando Verdasco auf Rasen, Juan Martin Del Potro in Wimbledon, Grigor Dimitrov, Alexander Zverev, Gilles Simon, Mischa Zverev und Jan-Lennard Struff, die zu dem Zeitpunkt in der Weltrangliste Plätze zwischen 27 (Alexander Zverev) und 165 (Del Potro) einnahmen.
Stan Wawrinka gewann 2014 das Australian Open, 2015 das French Open und diesen Sommer das US Open. Er sammelte gleich viele Grand-Slam-Trophäen wie Andy Murray, der letzten Montag die Führung in der Weltrangliste übernahm. Wäre die Nummer 1 der Welt nicht auch für Wawrinka ein erreichbares Ziel? Wawrinka: «Ich denke nicht. Ich bin 31, im Moment die Nummer 3 der Welt und gehöre seit vier Jahren zu den Top 4. Das alles ist schon sehr speziell. Ich weiss, dass ich jeden Gegner besiegen kann. Aber das muss mir viel regelmässiger gelingen, wenn ich die Nummer 1 werden möchte. Im Moment bin ich davon weit entfernt.»
Aber am Masters hegt Wawrinka nochmals grosse Ambitionen. Er will die Saison stark beenden. Er liebt das Turnierformat mit bloss acht Teilnehmern und der Gruppenphase am Anfang. Da stören keine Aussenseiter. Bei seinen ersten drei Teilnahmen überstand Wawrinka die Vorrunde immer, stets erfolgte das Ausscheiden in den Halbfinals. Zu weit nach vorne schielen darf Wawrinka nicht. In der Vorrunde trifft er auf Andy Murray (ATP 1), Kei Nishikori (ATP 5) und Swiss-Indoors-Gewinner Marin Cilic (ATP 7). Wenn der Schweizer in dieser Gruppe das Weiterkommen schafft, ist er sogar ein heisser Anwärter auf den Turniersieg.
Als Topfavorit startet indessen der Schotte Andy Murray (29) ins Turnier. Seit Beginn der Rasensaison (Juni) dominiert Murray die Tennisszene. Seine Siegesserie startete er im Londoner Queen's Club. Danach triumphierte er in Wimbledon und an den Olympischen Spielen in Rio. Am US Open scheiterte er in den Viertelfinals an Nishikori. Aber seither reihte er wieder 20 Einzelerfolge und vier Turniersiege (Peking, Schanghai, Wien, Paris-Bercy) aneinander.
Dennoch: Die Nummer 1 der Welt bleibt Andy Murray nur sicher länger als zwei Wochen, wenn er auch das Masters gewinnt. Triumphiert hingegen Novak Djokovic, erobert der Serbe die Tenniskrone bereits wieder zurück. Mit 405 Weltranglistenpunkten Vorsprung auf Djokovic steigt Murray ins Saisonfinale. ATP-Zähler gibt es ab Sonntag indessen noch reichlich zu gewinnen: 200 für jeden Sieg in der Vorrunde, weitere 400 für einen gewonnenen Halbfinal und zusätzliche 500 für den Finalsieg, das ergibt insgesamt 1500 Punkte.
Aber kann sich Djokovic nochmals aufraffen? Nachdem der 29-jährige Serbe am French Open in Roland-Garros den letzten ihm noch fehlenden grossen Titel gewonnen hatte, stürzte er in eine Form-Baisse. Im letzten halben Jahr gewann er bloss noch ein Turnier - das Masters-1000-Turnier von Toronto, auf welches viele Cracks mit Blick auf eine gute Olympiavorbereitung verzichtet hatten. Gerüchte ranken sich um Djokovic: Familiäre Probleme sollen der Grund für den Leistungseinbruch sein. Spekuliert wird auch darüber, dass sich Djokovic Ende Saison von Coach Boris Becker trennen soll. Mögliche Nachfolger stehen bei Djokovic bereits Schlange.
Für Djokovic gibt es kein idealeres Turnier als das Masters, um seine Topform wieder zu suchen und zu finden. Djokovic bietet sich die Chance, das Saison-Finale zum fünften Mal hintereinander zu gewinnen. In den letzten vier Jahren verlor er in der Londoner Arena nur ein einziges Gruppenspiel - vor einem Jahr gegen Roger Federer, den er danach im Final in der Revanche wieder besiegte. Djokovic eröffnet am Sonntagnachmittag gegen Turnierdebütant Thiem das Turnier. Der Kanadier Milos Raonic und der Franzose Gaël Monfils sind seine weiteren Vorrundengegner. Wawrinka bestreitet sein erstes Spiel am Montagnachmittag gegen Nishikori. (zap/sda)