Eines ist schon jetzt klar: Wenn es Novak Djokovic gelingt, in den nächsten sechs Wochen seine Ziele zu erreichen, dann wird der 34-Jährige bei jeder Wahl zum «Sportler des Jahres» gewinnen. Und er wird im «GOAT-Rennen» massiv Stimmen für sich sammeln.
Bei drei von vier Grand-Slam-Turnieren hat der Serbe 2021 bereits triumphiert, den Australian Open, den French Open und in Wimbledon. Gewinnt er auch noch die US Open, wird er zum ersten männlichen Tennisspieler seit Rod Laver 1969, dem der Grand Slam gelingt. Und weil in diesem Jahr auch Olympische Spiele stattfinden, könnte Djokovic sogar schaffen, was bis dato einzig Steffi Graf gelang: Der Golden Slam. 1988 gewann «die Gräfin» alle vier Majors und wurde dazu Olympiasiegerin in Seoul.
In Tokio steht Djokovic in den Viertelfinals, wo er heute (ca. 10 Uhr) auf Lokalmatador Kei Nishikori trifft. Nach seinem Sieg gestern über den Spanier Alejandro Davidovich Fokina wurde der «Djoker» über den grossen Druck befragt, der auf ihm als Olympia-Topfavorit laste – schliesslich hatten die Dauerrivalen Roger Federer und Rafael Nadal ja ihre Teilnahme abgesagt.
«Druck ist ein Privileg, mein Freund», begann Djokovic seine Ausführungen. «Ohne Druck ist es kein professioneller Sport. Wenn du nach ganz oben willst, bist du gut beraten, rasch zu lernen, mit Druck umzugehen. Und zwar auf dem Platz wie auch neben dem Platz.»
Auch er habe das nicht einfach so gekonnt, erläuterte der aktuell weltbeste Tennisspieler. «Das ist normal. Niemand wird mit den entsprechenden Fähigkeiten geboren, man erlangt sie erst mit der Zeit.» Erinnert sei an die Zeiten, als sich Djokovic mit dem umarmenden Guru Pepe Imaz umgab. Er hatte seine Hartnäckigkeit verloren, war ein Suchender, machte die wohl grösste Krise seiner Karriere durch. «Liebe und Frieden» predigte Imaz, der Killerinstinkt blieb dabei auf der Strecke. Heute ist Djokovic mental unheimlich stark, was sich auch in den Resultaten niederschlägt: Er gewann acht der letzten zwölf Grand-Slam-Turniere.
Natürlich bekomme er mit, wie sehr er in Tokio im Fokus stehe, sagte Djokovic weiter. «Ich kann nicht sagen, dass ich das alles nicht sehe oder höre. Aber ich habe mittlerweile einen Mechanismus entwickelt, wie ich damit umgehen kann, ohne dass es mich zerstört. Der Druck wird mich nicht zermürben», kündigte er an.
Der serbische Routinier hat damit geschafft, womit sich Turn-Superstar Simone Biles gerade sehr schwer tut. Sie brach den Team-Final ab und verzichtet heute wegen mentaler Probleme auf einen Start im Mehrkampf-Final. Die 24-jährige US-Amerikanerin sprach von «Dämonen im Kopf» und vom Gefühl, «manchmal die Last der ganzen Welt» auf ihren Schultern zu tragen.
In der Nacht auf heute meldete sich Biles erneut. Auf Twitter schrieb sie, wie sehr sie sich über den grossen Zuspruch freue, den sie gerade erhalte. «Diese überschwängliche Liebe und die Unterstützung hat mich erkennen lassen, dass ich mehr bin als meine Leistungen und mein Turnen. Das hatte ich vorher nie wirklich geglaubt.»
the outpouring love & support I’ve received has made me realize I’m more than my accomplishments and gymnastics which I never truly believed before. 🤍
— Simone Biles (@Simone_Biles) July 29, 2021
In der Turnhalle beherrscht Simone Biles den Spagat spielend. Der Spagat zwischen dem Leben als Privatperson und jenem im Fokus der Öffentlichkeit macht ihr mehr Mühe. So sehr, dass sie während des wichtigsten Anlasses seit den Olympischen Spielen von Rio, wo sie 2016 vierfache Olympiasiegerin wurde, die Konsequenzen zog.
«Das zeigt, wie die Turnerin unter allen Erwartungen und dem Druck fast zerbricht», sagte Sportpsychologin Cristina Baldasarre im watson-Interview. «Sie hat es Gott sei Dank gemerkt und für sich entschieden: ‹Das ist es mir nicht wert.›» Ob Biles an den Gerätefinals (ab Sonntag) wieder in der Lage ist, um die Medaillen zu turnen, ist noch nicht klar.
Während Simone Biles mit der Mannschaft Silber gewann, endeten die Heim-Spiele in Tokio für Naomi Osaka ohne Edelmetall. Die in den USA aufgewachsene Japanerin hatte bei der Eröffnungsfeier das olympische Feuer entzündet, sie war das ganz grosse Aushängeschild dieser Spiele, ihr Gesicht. Doch nach zwei Siegen (unter anderem gegen die Schweizerin Viktorija Golubic) schied Osaka schon in den Achtelfinals aus.
Nach der klaren Niederlage gegen Marketa Vondrousova sprach die 23-Jährige von den Erwartungen, die sie selber und die Öffentlichkeit an sie hatten. «Ich habe definitiv das Gefühl, dass es eine Menge Druck gab», sagte Osaka. «Ich hatte viel höhere Erwartungen. Ich bin bei jeder Niederlage enttäuscht, aber ich habe das Gefühl, dass diese hier mehr nervt als die anderen.»
Osaka hatte sich vor zwei Monaten wegen psychischer Probleme freiwillig von den French Open zurückgezogen. Sie war zuvor dafür gebüsst worden, dass sie der obligatorischen Medienkonferenz nach dem Spiel ferngeblieben war. Sie sagte, dort werde von den Fragestellern keine Rücksicht auf die Psyche der Sportler genommen. Und sie machte öffentlich, dass sie seit längerer Zeit mit mentalen Problemen zu kämpfen habe: «Ich habe seit dem US Open 2018 wiederholt Depressionen gehabt. Jeder, der mich kennt, weiss, dass ich introvertiert bin. Bevor ich mit den Medien spreche, verspüre ich ein starkes Unwohlsein.»
Während Olympia für Naomi Osaka vorbei ist, hat Novak Djokovic noch zwei Chancen auf Gold. Einerseits im prestigeträchtigeren Einzel, andererseits in der Mixed-Konkurrenz. Dort steht er an der Seite von Nina Stojanovic im Viertelfinal, wo das serbische Duo heute in der letzten Partie des Tages auf dem Centre Court auf Laura Siegemund und Kevin Krawietz aus Deutschland trifft. Bislang besitzt Djokovic eine olympische Medaille: Jene aus Bronze vom Einzel 2008 in Peking.
Allerdings ist für mich auch klar, dass es Profisport ohne diesen Druck nicht geben kann. Wie man am Beispiel Djokovic sieht, gehört die mentale Stärke zu den Fähigkeiten die ein Profi besitzen muss, um eben erfolgreich Profi zu sein.
Man sollte den Profis (und allen anderen Menschen) Strategien und Tricks beibringen wie man in solchen Situationen handelt und wo man sich Hilfe holt.
Und dann wundert sich Djokovic, warum er nie von den Kollegen oder den Fans zum beliebtesten Spieler gewählt wird ...