Geht es heute um die vor 120 Jahren ausgetragene Fahrt, geht es vor allem um eine Streitfrage. War es? Oder war es nicht? Das erste Rennen der Motorsportgeschichte?
Lassen wir die Fakten sprechen. Ein Reglement gab es nicht. Auch keinen Sieger. Dafür einen Siegerpreis – der dem Nicht-Sieger erst noch vorenthalten wurde. Sie verstehen nur noch Bahnhof? Zurecht. Die Fahrt von Paris nach Rouen 1894 war vor allem eines: Ein anarchisches Spektakel einiger Wilder und ein einziger Wettstreit des Pioniergeistes.
Sieben Stunden für 130 Kilometer – das gibt nicht erst seit Existieren der Formel 1 Anlass zu Klamauk. Dabei ist es ihnen damals bitterernst, Albert de Dion, Albert Lemaître und Auguste Doriot, jenen drei, die die Fahrt am schnellsten hinter sich bringen. So ernst, dass sich Dion und Lemaître bis zuletzt ein Duell auf Augenhöhe liefern. Im Ziel liegt Dion dann zwar dreieinhalb Minuten vor dem zweitklassierten Lemaître – bei einem Durchschnittstempo von knapp 19 Kilometern pro Stunde ist aber freilich schon fast von einem Herzschlagfinale zu sprechen.
Die Erfindung des Motorsports verdankt sich – vielleicht – ausgerechnet dem medialen Sommerloch. Jedenfalls wächst Paris–Rouen im Frühjahr 1894 auf dem Mist des Journalisten Pierre Giffard. Mit dem Blatt «Le Petit Journal» initiiert er eine öffentlich ausgeschriebene «Zuverlässigkeitsfahrt» für «Wagen ohne Pferde». In der Ausschreibung lässt man verlauten: «Der Wettbewerb ist offen für alle Fahrzeugtypen, vorausgesetzt, dass sie nicht gefährlich sind, vom Fahrer leicht kontrolliert werden können und nicht zuviel Geld kosten.» Nicht allein die Fahrzeit zählte, sondern auch Bedienbarkeit, Komfort, Sicherheit und Bequemlichkeit für die Insassen.
Als Preisgeld werden 5000 Francs ausgelobt, was diverse Tüftler mit ihren Kuriositäten auf vier Rädern anlockt wie der Honig die Bienen. 102 Halter wollen mit ihren Fahrzeugen teilnehmen, nur 21 werden allerdings tatsächlich zur Fahrt zugelassen. Sie alle sind entweder dampf- oder benzinbetrieben. Zu viele Vehikel sind für den Strassengebrauch gänzlich unbrauchbar: Alle alternativen Antriebssysteme werden aussortiert. Aber was wurde da auch alles gemeldet: Hydraulikantriebe, Antriebe mit komprimierter Luft, Hebel- oder auch Pendelantriebe. Eine einzige Freakshow.
Der deutsche Ingenieur Gottfried Daimler, bekannt etwa durch die Entwicklung des ersten vierrädrigen Kraftfahrzeugs mit Verbrennungsmotor, war beim Startschuss als neugieriger Beobachter zugegen. Sein Sohn Paul, der ihn begleitete, beschrieb das Szenario wie folgt: «Eine riesige Menge strömte herbei, um sich das in damaliger Zeit einzigartige Schauspiel, die Auffahrt der Wagen zum Rennen, anzusehen. Diese Rennwagen waren in Form, Art und Grösse ganz verschieden; schwere Dampfwagen mit Anhängern mit Riesenkräften konkurrierten mit den leichtesten Dampfdreirädern und diese wiederum mit den Benzinwagen.»
Mit seinem leistungsfähigen, zwei Tonnen schweren Dampfwagen, übernimmt Albert de Dion früh die Spitzenposition. Dass ihm just dieser Dampfantrieb zum Verhängnis werden würde, damit rechnete er in diesem Moment nicht. Die Daimlers derweil hatten in einem Begleitwagen Platz genommen und beobachteten das Geschehen mit Argusaugen.
Ihre Schilderung lässt einen Eindruck entstehen, wie es damals zugegangen sein muss: «Die verschiedenen Wagentypen machten einen eigenartigen Eindruck; man sah auf den schweren Dampfwagen Heizer, schweisstriefend, von Russ überzogen, schwer arbeitend beim Aufschütten von Brennmaterial. Man sah die Fahrer der kleinen Dampfdreiräder, dauernd den Druck und Wasserstand in dem kleinen, kunstvoll gefügten Röhrenkessel beobachtend und die Ölfeuerung regulierend. Man sah im Gegensatz dazu die Fahrer der Benzin- und Petroleumwagen ruhig auf dem Lenksitz, hie und da einen Hebel betätigend, wie nur rein zum Vergnügen fahrend. Ein ganz eigenartiges Bild und uns unvergesslich.»
Die 21 Pioniere erreichen eine Höchstgeschwindigkeit von 20 Kilometern und Durchschnittstempi um die 19 Kilometern pro Stunde. Albert de Dion überquert die Ziellinie nach genau sechs Stunden und 48 Minuten. Als Sieger wurden aber Albert Lemaître und Auguste Doriot erkoren, zwei, die mit Benzinmotoren unterwegs waren.
Für de Dion war kein Platz an der Sonne. Zu wenig leicht bedienbar und manövrierfähig sei sein Wagen gewesen, zu hoch der Verbrauch von 800 Litern Wasser und erst recht die Tatsache, dass ein Heizer an Bord unabdingbar sei: Die Organisatoren hatten kein Musikgehör für den Dampffreund. Es wird nicht nur das erste, sondern auch das einzige Mal bleiben, dass ein Dampfwagen bei einem Wettbewerb mitfährt.
In der wachsenden Begeisterung der Franzosen für den technischen Fortschritt finden die Autotüftler den idealen Hallraum für ihre Passion. Der Automobilklub «Automobile Club de France» wird gegründet und ein Jahr später, 1895, findet das erste «richtige» Rennen statt. Der Motorsport ist – definitiv – geboren. (uto)