Es ist Mittwochabend, ein kühler Septembertag neigt sich dem Ende zu. Die Grasshoppers sind ausgezeichnet in die Champions League gestartet und belegen nach dem 3:0-Heimsieg gegen die Glasgow Rangers den ersten Rang der Gruppe A. An jenem Abend wartet jedoch ein ganz anderes Kaliber auf die Truppe von Christian Gross. In der nigelnagelneuen Amsterdam-Arena geht es im zweiten Gruppenspiel gegen Ajax Amsterdam.
Jenes Ajax Amsterdam, welches in den vergangenen beiden Jahren jeweils im Champions-League-Final stand und einmal sogar den Pokal holte. Jenes Ajax Amsterdam, bei dem Superstars wie Edwin Van der Sar, Jari Litmanen, Frank de Boer und Marc Overmars in der Startformation stehen. Jenes Ajax Amsterdam, welches GC im Jahr zuvor mit einer 3:0-Packung nach Hause schickte. Jenes Ajax Amsterdam, das Mitte der 90er-Jahre das Nonplusultra des europäischen Klubfussballs ist.
Die Chancen der Zürcher sind gering, tendieren gegen null. Alles andere als ein klarer Ajax-Sieg käme einer Sensation gleich. GC-Bomber Kubilay Türkyilmaz sieht das ähnlich und greift am Abend vor dem Spiel zum letzten Pfeil im Köcher.
Wie er gegenüber dem «Blick» verrät, ist seine Geheimwaffe kein Geringerer als sein Coiffeur Gianni Tomasulo. Immer wenn der Tessiner Scheren-Virtuose vor einem Spiel Hand anlege, dann treffe er am Tag danach auch ins Schwarze, so Kubi.
Türkyilmaz ist einer der drei Schlüsselspieler der Hoppers. Neben Innenverteidiger Murat Yakin und Torhüter Pascal Zuberbühler. Wenn jemand ein Tor in der Amsterdam-Arena erzielen kann, dann er, Kubilay Türkyilmaz.
Kurz vor dem Champions-League-Kracher kommt jedoch die Hiobsbotschaft: «Türkyilmaz ist verletzt, ihn plagt eine Zerrung an der Wade», erklärt GC-Trainer Christian Gross. Da kann auch Coiffeur Tomasulos Schere nichts mehr ausrichten.
Hat schon vor dieser Botschaft keiner wirklich an einen GC-Sieg geglaubt, so ist spätestens jetzt allen Beteiligten klar: Mehr David gegen Goliath geht nicht.
Was sich angebahnt hatte, scheint sich zu Beginn des Spiels in der Amsterdam-Arena – es ist übrigens die erste Partie in Europa, welche unter geschlossenem Dach stattfindet – zu bewahrheiten. Ajax startet stark und gibt sofort den Ton an. Bis zur Halbzeit kommen die Hausherren zu mindestens einem halben Dutzend guten Torchancen, scheitern aber entweder am bärenstarken Pascal Zuberbühler oder, wie Marc Overmars, am Torpfosten.
Januskopf Zuberbühler, der vor dem Spiel wegen neuerlicher Flops in der Kritik steht und behauptet, dass faule Eier ihn stark machen, avanciert zum grossen Rückhalt für die Gäste. Er zeigt sich von der allerfeinsten Seite und hält zur Pause die Null.
Auch nach 45 Minuten deutet aber alles auf einen Sieg des haushohen Favoriten hin. Der Führungstreffer scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. GC kommt jedoch stark aus der Kabine und macht die Räume eng. Der Ajax-Express kommt immer mehr ins Stocken. Langsam, aber sicher beginnen die Hoppers, Lunte zu riechen. Liegt vielleicht sogar eine Überraschung in der Luft?
Doch dann kommt dieser eine Moment. Dieser eine Moment, in dem Esposito beim Freistoss ein kurzes Pässchen auf Murat Yakin spielt. Dieser eine Moment, in dem Murat Yakin den Ball so hart trifft, dass er prompt aus 30 Metern ins Tor zischt. Dieser eine Moment, in dem Edwin van der Sar wie angewurzelt stehen bleibt. Dieser eine Moment, in dem der niederländische Kommentator Murat Yakin mit Mats Gren verwechselt. Dieser eine Moment, in dem Murat Yakin mitten ins Ajax-Herz sticht.
Natürlich müssen die Hoppers nach dem Führungstreffer nochmals zittern, doch das Team von Christian Gross schaukelt das Ding irgendwie nach Hause. Die Sensation ist perfekt. Das kleine GC gewinnt gegen das übermächtige Ajax, auswärts in der Amsterdam-Arena.
Nach dem Spiel versammeln sich die GC-Spieler im Mannschaftshotel zum wohlverdienten Galadinner. In Krawatte und Anzug gekleidet werden Champagner-Gläser in die Höhe gestemmt und Bierchen gekillt. Trainer Gross hat seinen Schützlingen sogar freien Ausgang gewährt. Nur einer fehlt: Murat Yakin.
Der Mann, der die GC-Sternstunde überhaupt erst ermöglicht hat, sitzt auf einer Materialkiste im Hoteleingang und verteilt türkischen Fans Autogramme. Zeit für die Dusche hat der 22-jährige Matchwinner auch noch nicht gehabt. Nach dem Spiel wird er von Interview zu Interview gezerrt und muss seine Gefühle schildern. Immer und immer wieder läuft in seinem Kopf diese eine Szene ab:
Nach dem medialen Spiessrutenlauf wartet eine Challenge ganz anderer Art auf den Mann aus Münchenstein: Um 23:25 Uhr greift er zum Telefon und telefoniert nach Hause. Yakins Familie hat das Spiel wie 500'000 weitere Personen am TV mitverfolgt und ist mit ihren Emotionen völlig überfordert. Mama Emine kriegt sich gar nicht mehr ein und bricht in Tränen aus. Murat Yakin muss sich jetzt erstmal darum kümmern, dass seine Mutter keinen Kollaps erleidet.
Aber trotzdem läuft in Yakins Kopf immer und immer wieder diese eine Szene ab:
Der Rest der Mannschaft muss den Sieg also ohne Murat Yakin feiern. Am Tag danach zeigt sich auch die Schweizer Presse in Feierlaune und singt Lobeshymnen ohne Ende. Das «Blick»-Rating spricht Bände – kein GC-Akteur ist schlechter als mit Note 5 bewertet.
Ganz anders die Gemütslage in den Niederlanden: Trainer Louis van Gaal kann nach der Heim-Blamage nur festhalten: «Das war Anti-Ajax-Fussball.» Tijani Babangida, der sich im Spiel als Chancentod der Superlative geoutet hat, stellt nach der Partie ernüchtert fest: «Ich war populär, aber jetzt ...»
So ausführlich wie der GC-Auswärtstriumph auch ausgekostet und zelebriert wird, mit dem Erreichen der Viertelfinals wird es für die Hoppers letzten Endes doch nichts. Zwar gewinnt die Gross-Truppe am 30. Oktober noch mit 3:1 gegen AJ Auxerre, doch in der grossen Finalissima zu Hause gegen Ajax setzt es eine bittere 0:1-Niederlage ab.
Doch die ganze Geschichte hätte für GC auch ein Happy End nehmen können. Dann nämlich, wenn Murat Yakin diesen Freistoss versenkt hätte.
Nicht auszumalen, was in Yakins Kopf los gewesen wäre, hätte er Ajax noch einmal abgeschossen. Doch das Glück bleibt dem GC-Verteidiger dieses Mal verwehrt. Und so läuft in den Köpfen der Hopper-Fans auch heute noch immer und immer wieder diese eine Szene ab: