Elizabeth «Betty» Robinson ahnt lange gar nicht, dass sie Olympiasiegerin werden kann. Die junge Frau weiss zwar, dass sie schnell rennen kann. «Aber ich wusste nicht einmal, dass es Wettkämpfe für Frauen gibt. Ich wuchs als Hinterwäldlerin auf», schildert sie Jahrzehnte später der «Los Angeles Times».
Der Frauensport steckt noch in den Kinderschuhen. Bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam finden in der Leichtathletik und im Turnen erstmals Wettkämpfe beider Geschlechter statt. Betty Robinson kommt beinahe wie die Jungfrau zum Kind zu ihrer Goldmedaille.
Sie ist 16 Jahre jung – und nimmt in Amsterdam erst zum vierten Mal in ihrem Leben an einem Wettkampf teil. Entdeckt hat sie wenige Monate vorher ihr Biologielehrer. Charles Price, der auch Trainer des Schulteams ist, sieht Robinson auf einen abfahrbereiten Zug zustürmen. Er denkt sich, dass sie diesen niemals erwischen würde – und wird im Zug sitzend davon überrascht, dass sie plötzlich neben ihm hockt.
Price lädt sie zum Training am nächsten Tag ein und ist ein weiteres Mal vom Talent beeindruckt. Umgehend wird Betty Robinson Teil des Teams – das ausser ihr nur aus Jungs besteht. Ein Mädchen-Team gibt es nicht.
Drei Wochen später tritt sie zu ihrem ersten Rennen an und muss sich nur der US-Rekordhalterin über 100 Meter, Helen Filkey, geschlagen geben. Das zweite Rennen sind die Olympia-Ausscheidungen des Grossraums Chicago, der dritte Wettkampf die US-Trials. Robinson wird Zweite und holt sich damit ein Ticket für die Olympischen Spiele.
Dort übersteht sie über 100 Meter zunächst den Vorlauf. Anschliessend gewinnt sie ihren Halbfinal und stellt mit 12,4 Sekunden einen neuen olympischen Rekord auf.
Im Final wird ein Duell mit der Kanadierin Bobbie Rosenfeld erwartet, sie war in ihrem Halbfinal genau gleich schnell. Doch bevor es losgeht, bemerkt Robinson, dass sie falsch gepackt hat: Sie hat zwei linke Schuhe dabei, aber keinen rechten. Zu ihrem Glück besorgt ihr pünktlich fürs Rennen jemand aus der US-Delegation die richtigen Schuhe.
Zwei Konkurrentinnen werden aufgrund von Fehlstarts disqualifiziert und so laufen vier Frauen um die drei Medaillen. Um Gold gibt es das erwartete Kopf-an-Kopf-Duell. Robinson und Rosenfeld setzen sich ab und machen den Olympiasieg unter sich aus.
«Ich weiss noch, wie ich das Zielband durchtrennte», erinnert sich Robinson später an die Entscheidung, «aber ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich gewonnen hatte. Es war so knapp.» Dann sieht die 16-Jährige, wie ihre Freunde auf der Tribüne übers Geländer zu ihr springen, um sie zu umarmen. «Da wusste ich, dass ich gewonnen hatte. Als sie dann die Flagge hissten, habe ich geweint.»
Vier Monate nachdem sie mit der Leichtathletik angefangen hat, wird Betty Robinson die erste Olympiasiegerin über 100 Meter. Mit ihrer Zeit von 12,2 Sekunden egalisiert sie den Weltrekord. Mit der US-Staffel gewinnt sie zudem die Silbermedaille.
1932 finden die Sommerspiele in Los Angeles statt – wo Robinson keine Gelegenheit erhält, erneut zuzuschlagen. Sie muss sogar froh sein, noch am Leben zu sein. Denn an einem heissen Sommertag 1931 stürzt ein Doppeldecker-Flugzeug, in dem sie mit ihrem Cousin Wil, einem erfahrenen Piloten, sass, in ein sumpfiges Feld ab. Als ein vorbeifahrender Lastwagenfahrer die Sportlerin, die ebenfalls eine Pilotenlizenz anstrebt, findet, ist sie nicht ansprechbar und Blut tropft ihr vom Kopf. Er hält Robinson für tot und bringt sie deshalb nicht in ein Spital, sondern direkt zu einem Bestatter.
Doch das ist verfrüht. Die Olympiasiegerin überlebt, ebenso wie ihr Cousin. «Weil ich in einer so guten körperlichen Verfassung war», ist sie überzeugt. Elf Wochen verbringt Robinson im Spital. Sie erleidet schwere Kopfverletzungen, Arm- und Beinbrüche. Ein Bein wird von der Hüfte bis zur Ferse eingegipst und nachdem es verheilt ist, ist es einen halben Zentimeter kürzer als das andere. Die Ärzte sagen ihr, dass sie nie mehr rennen könne und ihr Leben lang auf Krücken angewiesen sei.
Dieses Verdikt will Betty Robinson nicht akzeptieren. Dreieinhalb Jahre setzen sie die vielen Verletzungen und ihre Folgen ausser Gefecht. 1936 versucht sie ihr Comeback. Das Knie kann sie nicht beugen, also startet sie im Stehen, anstatt in die Hocke zu gehen. Sie schafft es in die amerikanische Staffel, wo sie an Position drei läuft. Dort, wo der Start fliegend ist und sie keinen Nachteil hat.
Adolf Hitler dienen die Olympischen Spiele in Berlin als Propaganda-Maschine für die Nazis. Der Final der Frauen über 4 x 100 m gerät aus einheimischer Sicht indes zum grossen Drama. Deutschland, das im Vorlauf Weltrekord lief, liegt klar in Führung, als beim letzten Wechsel der Stab aus den Händen gleitet. Dahinter übergibt Betty Robinson den Stab an ihre Kollegin Helen Stephens, die freie Bahn hat. Die USA gewinnen Gold und Betty Robinson wird acht Jahre nach ihrem ersten Triumph noch einmal Olympiasiegerin.
Danach heiratet sie und wird Mutter zweier Kinder. In ihren letzten Lebensjahren erkrankt Robinson an Krebs und Alzheimer. Vor den Olympischen Spielen von Atlanta 1996 steht sie ein letztes Mal im Mittelpunkt, als sie Fackelträgerin des olympischen Feuers sein darf. Drei Jahre später stirbt Betty Robinson, die erste Sprint-Olympiasiegerin der Geschichte, im Alter von 87 Jahren. Viele Jahrzehnte, nachdem sie fälschlicherweise schon einmal für tot gehalten wurde.
Betty Robinson hat sieben Leben gelebt.
Sie lag im Sterben und holte mit ubändigem Willen nochmals Gold. Das ist eine fantastische Geschichte.