Was macht man, wenn das grösste Spiel der Vereinsgeschichte ansteht und alle Stürmer verletzt sind? Diese Frage stellt sich Lawrie Sanchez im Februar 2001, wenige Wochen vor dem FA-Cup-Viertelfinal gegen Leicester City. Dann kommt dem damaligen Trainer der Wycombe Wanderers eine ungewöhnliche Idee. Sanchez schlägt dem Pressesprecher des Drittligisten vor, ein Inserat im Teletext zu schalten.
Das tut dieser dann auch. Wer für Wycombe spielen möchte und in der laufenden FA-Cup-Saison noch nicht für ein anderes Team zum Einsatz gekommen ist – dann wäre dieser Spieler für die Wanderers nämlich nicht spielberechtigt – solle sich bitte melden. Der Rücklauf auf die Anzeige, die auf der Vereinswebsite und im «Ceefax», dem Teletext der BBC, geschaltet wird, ist nicht gerade gross. Nur einer meldet sich: der Berater von Roy Essandoh.
Der nordirische Stürmer, der vorwiegend in der ghanaischen Heimat seines Vaters aufgewachsen ist, ist zu dem Zeitpunkt ohne Vertrag. Erst kurz zuvor ist Essandoh aus Finnland, wo er für den Erstligisten Vaasan PS gespielt hat, auf die Insel zurückgekehrt. Wycombe-Trainer Sanchez lädt den Aspiranten zum Probetraining ein und lässt ihn mit der Reserve spielen. Dort habe er sich «okay» geschlagen, wie der Coach später erzählt, doch mangels Alternativen nominiert er ihn im nächsten Ligaspiel für die Startaufstellung und setzt ihn wenige Tage später erneut ein. Und dann kommt der Tag des grossen Spiels.
Am 10. März 2001 treten die Wycombe Wanderers als krasser Aussenseiter bei Premier-League-Klub Leicester City an. Rund 22'000 Zuschauerinnen und Zuschauer füllen das ausverkaufte Stadion Filbert Street. Die Rollen im Viertelfinal des FA Cups sind klar verteilt, doch der Aussenseiter schlägt sich wacker. «Nach 20, 30 Minuten merkte man, dass sich die Stimmung etwas dreht. Die Fans waren gereizt, weil es nach wie vor 0:0 stand», sagt Essandoh Jahre später.
Und tatsächlich gehen die Gäste kurz nach der Pause durch Paul McCarthy in Führung. Die Führung hält jedoch nicht lange, Leicesters Mittelfeldspieler mit dem grossartigen Namen Muzzy Izzet gleicht in der 68. Minute aus. Dann bringt Lawrie Sanchez den einzigen Stürmer, der auf der Ersatzbank sitzt, ins Spiel: Roy Essandoh. «An diesem Punkt würde man sich als Aussenseiter auch über ein Wiederholungsspiel freuen, wenn man ehrlich ist», sagt dieser im Rückblick. Dazu kommt es aber nicht.
Die Wycombe Wanderers spielen mutig weiter, wenige Minuten nach Essandohs Einwechslung kommt es zu einer strittigen Szene in Leicesters Strafraum. Ein Verteidiger wehrt eine Flanke mit dem Oberarm ab, woraufhin Trainer Sanchez vehement einen Elfmeter fordert. Diesen gibt es nicht – der VAR ist in dieser Zeit ja noch Jahre entfernt –, dafür wird Sanchez von der Seitenlinie verbannt. So verfolgt der damals 41-Jährige den Rest der Partie im Presseraum.
Auf dem kleinen Bildschirm sieht er dort, wie sein Team in der Nachspielzeit noch einmal einen hohen Ball in den Strafraum schlägt. Von der linken Seite wird dieser von einem Wycombe-Spieler per Kopf in die Mitte gebracht, wo sich Essandoh – wer sonst? – in die Höhe schraubt und in bester Torjägermanier einköpft. «Es gibt Momente, da weisst du bei der Schussabgabe, dass der reingeht – und das war so einer», berichtet der Torschütze.
UP FOR THE CUP!🏆
— Football On The Soar (@FootballOTSoar) February 27, 2024
2001: Division Two Wycombe Wanderers knock out top flight Leicester City to reach the FA Cup semi-final.
Roy Essandoh, who signed a two week contract a week prior, scored an injury time winner to knock out Peter Taylor’s City.
“No offence… but who are you?” pic.twitter.com/xC1Jn37BNI
Die Heimfans sind bedient, die Anhängerschaft der Wanderers ist hingegen völlig aus dem Häuschen. Sanchez rastet vor dem kleinen Fernseher aus und Essandoh wird unter seinen Mitspielern begraben. In diesem Moment wird dem Helden, dessen Vertrag jeweils nur bis Ende Woche dauert, klar: «Wir haben das wohl gewonnen.» Als der Schiedsrichter kurz danach abpfeift, steht die grosse Sensation fest: Die Wycombe Wanderers, die zuvor noch nie auch nur die 3. Runde des FA Cups überstanden hatten, sind im Halbfinal.
Noch am selben Abend scherzt Trainer Lawrie Sanchez: «Ich habe ihn seit dem Ende des Spiels nicht mehr gesehen, ich weiss nicht einmal, ob er noch Teil des Teams ist.» Als Moderator Gary Lineker ihm rät, einen neuen Vertrag zu geben, sagt Sanchez: «Wir sollten seinen Vertrag zumindest für eine weitere Woche verlängern.» Der Trainer weiss nur zu gut, wie es sich anfühlt, zum Cuphelden zu werden. Sanchez erzielte den einzigen Treffer im FA-Cup-Final 1988 für Wimbledons «Crazy Gang» gegen den grossen FC Liverpool.
Derweil fragt ein Journalist den Siegtorschützen nach der Partie: «Nichts für ungut, aber wer sind Sie?» Die Frage wird am nächsten Tag von den englischen Gazetten beantwortet. Er ist «Teletext Boy Roy», die «Internet-Meisterleistung» oder besonders schön: der «Teletext-Terminator».
Essandoh wurde zum Medien- und Fan-Darling, gab zahlreiche Interviews, Fernseh-Crews kamen zum Training des Drittligisten und der damals 25-Jährige bekam Post aus aller Welt, wie er später dem «Guardian» erzählte.
“IT’S ESSANDOH!” pic.twitter.com/10T35DW4ob
— Wycombe Wanderers (@wwfcofficial) January 5, 2018
Doch Wycombes und Essandohs Märchen war von kurzer Dauer. Der Joker aus dem Teletext stach im weiteren Verlauf der Saison in zwölf Einsätzen kein einziges Mal mehr. Im Halbfinal unterlagen die Wanderers nach grossem Kampf gegen den späteren Cupsieger Liverpool um Stéphane Henchoz, Jamie Carragher, Michael Owen und Robbie Fowler. 77 Minuten lang stand es 0:0, dann traf Joker Emile Heskey auf Vorarbeit des ebenfalls eingewechselten Steven Gerrard. Fowler erhöhte kurz darauf, Wycombe gelang lediglich noch der Anschlusstreffer zum 1:2.
«Wir haben eine gute Show geliefert und nicht mit fünf oder sechs Toren Unterschied verloren, wie es alle erwartet hatten», sagt Essandoh und fügt an: «Danach verlief es für mich aber enttäuschend.» Kurz vor dem Ende der Saison habe ihm Sanchez mitgeteilt, dass er ihn nicht weiter verpflichten würde, da er keinen Stürmer mehr brauche. «Natürlich war ich verärgert, regelrecht entnervt. Schliesslich habe ich das bedeutendste Tor in der Vereinsgeschichte geschossen», berichtet er.
Er versucht es bei anderen Teams, bekommt jedoch auf jener Stufe keinen Vertrag. Es sind andere Zeiten im Fussball, das Geld ist bei vielen Klubs knapp, und so muss Essandoh seinen Traum vom Profifussball begraben. Er spielt bis 2011 noch bei einigen Teams ausserhalb der obersten vier Ligen in England. Nach seiner Karriere arbeitet er als Fitnesstrainer.
So bleibt aus der Karriere, die beim schottischen Erstligisten Motherwell, wo er jedoch nur zu fünf Einwechslungen kam, begonnen hat, eigentlich nur der eine grosse Tag. Aber für Essandoh ist klar: «Lieber treffe ich zum Sieg im Viertelfinal des FA Cup als in irgendeinem Ligaspiel. Es ist etwas, auf das ich immer zurückblicken kann und denken: ‹Ja, das war grossartig.›»