Seit Beginn dieses Jahres ist es amtlich: Die Konfessionslosen bilden die grösste Gruppe der Schweizer Bevölkerung. 34 Prozent gehören keiner Religionsgemeinschaft an. Die Reformierten kommen noch auf 20,5 Prozent, die Katholiken auf 32,1 Prozent.
Das kommt schon fast einer Zeitenwende gleich, zumal die Säkularisierung weiter anhalten dürfte. Einerseits sterben die alten Leute, für die der Glaube und das Kirchenleben geradezu selbstverständlich zum Leben gehörte. Denn vor 50 Jahren war lediglich 1 Prozent konfessionslos. Es fand also in einem halben Jahrhundert eine rasante Glaubenserosion statt.
Andererseits können heute viele Jugendliche selbst wählen, ob sie einer Religionsgemeinschaft angehören wollen. Da der christliche Glaube und die religiösen Rituale für viele nicht besonders attraktiv sind, bleiben sie lieber konfessionslos. Spätestens wenn die Kirchensteuer fällig wird, überlegen sich die Getauften, ob sie austreten sollen.
Wenn der Trend zur Konfessionslosigkeit anhält, müssen wir uns Gedanken machen, ob das Kreuz in unserer Fahne noch zeitgemäss ist. Oder ob der Psalm in der Nationalhymne nicht aus der Zeit fällt und ob wir in der Verfassung weiterhin Gott anrufen sollen.
Komplett aus dem Rahmen fallen unsere nationalen Parlamentsmitglieder, wie der «Tages-Anzeiger» diese Woche berichtete. In einer Untersuchung fand Professor Adrian Vatter von der Universität Bern heraus, dass 75 Prozent der 246 Parlamentarierinnen und Parlamentarier Kirchenmitglieder sind. Die National- und Ständeräte bilden also in Glaubensfragen die Gesamtbevölkerung nicht ab. Oder andersherum: Die Konfessionslosen sind massiv untervertreten.
Konkret: Rund 40 Prozent der Volksvertreterinnen und Volksvertreter in Bern sind katholisch, 31,9 Prozent reformiert, 3 Prozent gehören Freikirchen an. Untervertreten sind aber nicht nur die Konfessionslosen, sondern auch Angehörige des Islams. Diese machen 5,9 Prozent der Bevölkerung aus, haben aber nur eine Nationalrätin (Islam Alijaj) und einen Nationalrat (Mauro Poggia).
Übervertreten, gemessen an der Gesamtbevölkerung mit 0,4 Prozent, ist die kleine Bevölkerungsgruppe der Juden, die mit Daniel Jositsch und Samuel Bendahan ebenfalls zwei Parlamentarier stellen.
Aufschlussreich ist die Aufschlüsselung nach Parteien. Es ist kaum eine Überraschung, dass von den grossen Parteien die Mitte mit gut 95 Prozent am meisten Kirchenmitglieder aufweist. Sie wurde in den katholischen Stammlanden gross und hiess bis vor kurzem Christlichdemokratische Volkspartei (CVP).
Der Namenswechsel zeigt, dass für viele Wähler das C im Parteinamen ein Anachronismus war. Geschadet hat es der Partei nicht, dass sie das C gekippt hat, konnte sie doch den Abwärtstrend stoppen und in der Wählergunst leicht zulegen.
Erstaunlich ist hingegen, dass die anderen bürgerlichen Parteien der Mitte kaum nachstehen, weisen sie doch ebenfalls einen hohen Anteil an Kirchenmitgliedern auf. So sind rund 90 Prozent der SVP- und FDP-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier Mitglied einer Landeskirche.
Vatter und sein Team fanden laut «Tages-Anzeiger» weiter heraus, dass bei der SVP ein „Konfessionswandel“ stattgefunden hat. War die Partei früher reformiert geprägt, sind heute fast die Hälfte der Parlamentarier katholisch.
Einzig die SP fällt aus dem Rahmen. Knapp die Hälfte ihrer Volksvertreterinnen und Volksvertreter ist konfessionslos. Ein Hinweis, dass die Partei nicht mehr der Hafen für die Arbeiter ist, sondern für die Intellektuellen.
Da wäre noch eine Besonderheit: Im Ständerat verfügen die Katholiken über eine Mehrheit von 56 Prozent.
Sind also unsere Parlamente von den Gläubigen unterwandert? Wohl kaum, denn die wenigsten Entscheide betreffen religiöse Fragen, zumal diese meist kantonal geregelt werden. Doch bei manchen ethischen, gesundheitspolitischen und sozialen Fragen spielen religiöse Standpunkte und Überzeugungen eine Rolle.
Zum Beispiel bei Vorlagen zu Abtreibungen (Fristenlösung), der Sterbehilfe, der Trennung von Kirche und Staat oder den Fortpflanzungstechniken beeinflussen religiöse Überzeugungen auch mal die Entscheide.
Wie müssen die Resultate interpretiert werden? Sind unsere Volksvertreterinnen und Volksvertreter besonders gläubig? Besonders angepasst? Befürchten sie einen Reputationsschaden, wenn sie aus der Kirche austreten? Haben sie Angst, gläubige Wählende zu vergraulen und Stimmen zu verlieren? Oder liegt es daran, dass Kirchen und politische Institutionen seit jeher verbandelt waren?
Diese Fragen kann die Studie von Vatter nicht beantworten. Solche Überlegungen haben aber viele Parlamentsmitglieder mit Sicherheit schon angestellt.
Wenn der Trend zur Säkularisierung weiter anhält, werden Historiker in 100 Jahren erstaunt feststellen, dass die Schweiz vor nicht allzu langer Zeit ein frommes Land war.