Alex Zülle war in den Neunzigerjahren eines der grossen Aushängeschilder im Schweizer Radsport. Der Zeitfahr-Spezialist trug die Leadertrikots aller grossen Rundfahrten. Unvergessen bleibt sein prächtiges Solo an der Tour de France 1995.
Genau ein Vierteljahrhundert ist es her, da feierte Zülle in der Alpenetappe von Le Grand-Bornand nach La Plagne nach einer langen Flucht solo seinen ersten Etappensieg im Rahmen der Frankreich-Rundfahrt. Für den damals 27-jährigen Ostschweizer war es zu jenem Zeitpunkt der grösste Erfolg seiner 1991 gestarteten Profi-Karriere. Sein Triumph auf knapp 2000 Metern über Meer war deutlich höher einzustufen als das drei Jahre zuvor errungene Maillot jaune oder die Gesamtsiege bei der Fernfahrt Paris – Nizza und der Baskenland-Rundfahrt.
Mehr Wert noch als der Sieg hatte für Zülle, wie dieser zustande gekommen war. Die erste Tour-Woche war für den Fahrer der spanischen Sportgruppe Once nicht so verlaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Besonders das missratene Zeitfahren, das ihm fast vier Minuten Zeitverlust auf Miguel Indurain eingebrockt hatte, stiess ihm sauer auf. «Ich hatte etwas gutzumachen nach diesem Zeitfahren», gestand Zülle, eigentlich ein Spezialist im Kampf gegen die Uhr, am Abend seines grössten Triumphs.
Mit der Wut im Bauch und einem Ruhetag in den Beinen griff der Schweizer 100 km vor dem Ziel am Col des Saisies an und wollte sich und der Welt beweisen, was wirklich ihn ihm steckt. Bereits am Fusse des zweiten grossen Passes, dem Cormet de Roselend, liess Zülle seine beiden Begleiter Bo Hamburger und Federico Muñoz stehen und absolvierte die restlichen 68 km alleine an der Spitze. Auf der Passhöhe war er zwischenzeitlich sogar virtueller Leader.
Doch die 17 km lange Schlusssteigung hinauf nach La Plagne entwickelte sich für den Wiler, der dafür bekannt war, weit über seine Schmerzgrenzen hinauszugehen, zu einer schier endlosen Leidensfahrt. Letztlich rettete Zülle nach 160 km den Sieg ins Ziel. Im Gesamtklassement machte er damit einen Sprung vom 9. auf den 2. Platz. Diese Position verteidigte er in den restlichen elf Etappen bis nach Paris souverän. In den Alpen und den Pyrenäen blieb er stets am Hinterrad von Indurain, der seinen fünften Gesamtsieg in Folge bei der «Grande Boucle» feierte.
Mit seinem grandiosen Solosieg leitete Zülle eine Art Wachablösung im Schweizer Lager ein. Statt wie in den Jahren zuvor Tony Rominger, galt fortan Zülle als erster Herausforderer des übermächtigen Spaniers Indurain. Rominger, der im selben Jahr schon den Giro und davor dreimal die Vuelta gewonnen hatte, musste sich mit dem 8. Gesamtrang begnügen.
Den Traum vom ersten Schweizer Gesamtsieg an der Tour de France seit Hugo Koblet 1951 konnte sich Zülle allerdings nie erfüllen. Nach seinem Prolog-Sieg in 's-Hertogenbosch trug er 1996 zwar drei Tage lang das gelbe Leadertrikot. Zwei Stürze in der Abfahrt des Cormet de Roselend warfen ihn aber weit zurück. 1997 musste Zülle, der sich im Feld einen Namen als Sturzpilot gemacht hatte, die Tour nach nur vier Etappen aufgeben. Zu gross waren die Schmerzen infolge der erst zweieinhalb Wochen zuvor erfolgten Operation am angebrochenen Schlüsselbein.
Dann folgte der Wechsel zu Festina und 1998 das dunkelste Kapitel in der Laufbahn des mittlerweile zweifachen Vuelta-Gesamtsiegers. Im Zuge eines gross angelegten Dopingskandals wurde Zülle wie seine Festina-Teamkollegen und andere Fahrer auch von der Tour de France ausgeschlossen. Später gestand er den Gebrauch von EPO.
Nach einer siebenmonatigen Sperre kehrte Zülle im Frühjahr 1999 zurück. Drei Monate nach seinem Comeback wurde er hinter dem mittlerweile aus den Siegerlisten gestrichenen Amerikaner Lance Armstrong erneut Gesamtzweiter der Tour de France.
Im Jahr darauf stieg er in der letzten Tour-Woche mit grossem Rückstand aus. Danach gewann er 2002 zwar noch die Tour de Suisse, zur Frankreich-Rundfahrt trat er bis zu seinem Rücktritt im Jahr 2004 aber nicht mehr an.
Heute leitet der gelernte Maler ein Fitnesscenter in Uzwil. Der zweifache Familienvater kommt mit seiner offenen Art bei der Kundschaft gut an. Über seine Zeit als Veloprofi möchte er jedoch nicht mehr Auskunft geben, «obwohl sich zuletzt die Anfragen wieder gehäuft haben». Es scheint, als habe er mit dem professionellen Radsport abgeschlossen.
Ganz auf das Zweirad verzichtet Zülle aber auch heute nicht. Noch immer spult er seine Kilometer ab. Kürzlich begleitete er Michael Albasini ein Stück auf dessen Abschiedstour durch die Schweiz. Die Leidensfahrten früherer Tage sind jedoch weit weg. Mittlerweile steht für Zülle der Genuss im Vordergrund.