Neuseeland gilt im Rugby als das, was Brasilien im Fussball gilt: als historisch beste Nation. Bei neun WM-Austragungen holten die «All Blacks» dreimal den Titel, den ersten gleich bei der Premiere des Turniers 1987.
Ein halbes Jahr vor dieser WM stehen Formtests in Frankreich an. Die Partie in Nantes geht dabei in die Geschichtsbücher des Rugby-Sports ein – und mit ihr Wayne «Buck» Shelford. Eine Woche zuvor gab er beim ersten Vergleich mit den Franzosen, einem 19:7-Sieg der «Kiwis» in Toulouse, sein Länderspieldebüt. Nun steht sein zweiter Einsatz für die berühmten «All Blacks» bevor.
Die Stimmung ist aufgeladen, zwischen den beiden Ländern schwelt ein Konflikt um die «Rainbow Warrior». Das Schiff der Umweltschutzorganisation Greenpeace war 1985 im Hafen der neuseeländischen Metropole Auckland vom französischen Geheimdienst in die Luft gesprengt worden. Die «Rainbow Warrior» war für Proteste gegen die französischen Atomwaffentests im Mururoa-Atoll vorgesehen. Ein Besatzungsmitglied verlor bei der Sprengung sein Leben.
Die Franzosen treten in Nantes überaus aggressiv auf und versuchen mit dieser Spielweise, die Gegner einzuschüchtern. Das zahlt sich aus, Frankreich gewinnt 16:3.
Doch in Erinnerung bleibt eine andere Zahl als jene des Resultats. Drei Zähne verliert Buck Shelford an diesem Tag – und das ist nicht seine schlimmste Verletzung.
Noch vor der Pause muss er erneut gepflegt werden. Nach einem Zusammenprall sieht er nur noch Sterne – Gehirnerschütterung. «Ich machte weiter. Wir hatten niemanden mehr auf der Bank, es gab so viele Verletzte.» In Neuseeland wird Buck Shelford mit seinem Kampfgeist umgehend zum Volkshelden. Es sind andere Zeiten.
Und dann trifft ihn bei einem sogenannten «Ruck» ein französischer Schuh in der Leistengegend, so unglücklich, dass der Hodensack aufgeschlitzt wird und ein Hoden zu unerwarteter Frischluft kommt. «Daniel Dubroca trat mir mit voller Wucht in die Nüsse, es tat verdammt weh», berichtet Shelford mit etwas Abstand zum historischen Match.
Shelford beisst auf die (verbliebenen) Zähne, «ein bisschen Wasser drüber». Erst in der Kabine wird ihm bewusst, was passiert ist. «Ich zog mich aus und die Kollegen, die mir gegenüber sassen, schauten entsetzt hin. Einer meiner Hoden hing aus dem Hodensack zwischen den Beinen, überall war Blut.»
Er duscht kurz und begibt sich dann zum Arzt, der wieder alles sortiert. Das Fazit des harten Burschen: «Solche Sachen passieren halt. Und dann spielst du wieder weiter.»
Neben dem 28-Jährigen werden auch mehrere andere Teamkollegen in dem «Battle of Nantes» verletzt. «Nach dem Spiel haben alle geblutet. Es war das brutalste Spiel, an dem ich teilgenommen habe», schildert er viele Jahre später.
Jahrzehnte später wird bekannt, dass «Les Bleus» mutmasslich mit Amphetaminen vollgepumpt waren. «Als ich vor dem Spiel aus der Kabine kam und neben den Franzosen stand, waren ihre Augen riesig. Sie sahen aus, als würden sie high auf einer Wolke schweben», beschreibt es Shelford.
Nach der Schlacht in Nantes sinnen die Neuseeländer an der WM im darauffolgenden Jahr auf Rache. «Wir wollen im Final gegen sie spielen», gibt Shelford zu Protokoll.
Sein Wunsch wird Realität: Am 20. Juni 1987 treffen die «All Blacks» in Auckland auf Frankreich. Das Spiel ist eine einseitige Sache, Neuseeland gewinnt es 29:9 und wird erster Rugby-Weltmeister. Die Niederlage in Nantes sei der Auslöser gewesen, gibt Trainer Brian Lochore den Franzosen zurück.
Buck Shelford wird nach dem WM-Triumph Captain der «All Blacks». In drei Jahren bleibt das Team unbesiegt, als er ausgemustert wird, führt das in Neuseeland zu einer Aufruhr wie in der Schweiz, als Artur Jorge vor der Fussball-EM 1996 die Stars Alain Sutter und Adrian Knup aus der Nati wirft.
Shelford selber ist eine Errungenschaft, neben dem Spielfeld jedoch wichtiger als für die Erfolge auf dem Rasen. Denn er ist es, dank dem der Haka vor dem Spiel richtig aufgeführt wird. Der rituelle Tanz der Ureinwohner wird von den meisten Nachkommen von Einwanderern eher schludrig gezeigt und ohne Hintergrundwissen.
«Ich habe den Jungs gesagt: Wenn wir den Haka schon machen, dann richtig. Stimmt darüber ab und entscheidet, welchen Weg ihr gehen wollt», so Shelford, der dem Stamm der Ngapuhi angehört. Zum Glück für die Zuschauer fällt die Abstimmung pro Tanz aus und Shelford organisiert Nachhilfeunterricht. «Die ersten Lektionen waren manchmal sehr lustig. Den Pakehas (ein Maori-Ausdruck für Siedler) die Bewegungen beizubringen, war harte Arbeit.»
Doch der Einsatz zahlt sich aus, mit der Zeit haben alle Spieler den Haka drauf. Nur Buck Shelford kriegt das nicht mit, denn er steht immer zuvorderst. «Beim richtigen Haka steht der Häuptling in der Mitte oder hinten und beobachtet die anderen. Aber wir mussten all die guten Jungs vorne haben, um die zu verstecken, die sich damit schwer taten.»
1991 wird Shelford für seine Verdienste um den Rugbysport zum Mitglied des «Order of the British Empire» ernannt. 2021 wird er von der Königin zum Ritter geschlagen und ist seither «Sir Buck». Seinen grössten Gegner hatte Wayne Shelford da schon besiegt: 2007 gab er eine Krebserkrankung bekannt, von der er sich in der Folge vollständig erholte.