Als Gino Mäder am 15. Juni in der Abfahrt vom Albula stürzte, war die Aufmerksamkeit auf den Tagessieger, Juan Ayuso, gerichtet. Die Fernsehübertragung endete, ohne dass der Sturz der Schweizer Velohoffnung oder der zweite Sturz von Magnus Sheffield ein Thema gewesen wäre.
Polizei und Staatsanwaltschaft suchen heute, knapp drei Wochen nach dem tragischen Unglück, noch immer nach Zeugen, die gesehen haben, wie die beiden Radprofis von der Strasse abkamen und in ein Bachbett stürzten. Mäder verletzte sich beim Sturz so schwer, dass er sich davon nicht mehr erholte. Er starb tags darauf im Kantonsspital Chur. Der weniger schlimm verletzte Sheffield konnte das Spital Samedan etwas später wieder verlassen.
Seit dem Sturz rätselt die Radsportwelt: Wie konnte Mäder, der die Strecke kannte, an dieser Stelle verunfallen? Die Haarnadelkurven weiter unten seien heikler und die Abfahrt vom Furka eigentlich gefährlicher, hiess es. Überall hätte man einen Sturz erwartet, aber nicht dort, war zu hören.
Da mit Sheffield ein Zweiter Fahrer verunglückte, wurde spekuliert, ob sie sich touchiert hatten. Dies gilt mittlerweile als unwahrscheinlich: Zu gross war der Abstand zwischen ihnen während des Rennens.
Nun zeigen Recherchen von CH Media: An der exakt gleichen Stelle, wo Mäder und Sheffield stürzten, ereignete sich zwei Jahre zuvor ein beinahe identischer Unfall. Während des Amatuer-Rennens Alpen-Challenge-Lenzerheide geriet Teilnehmer Harry Nussbaumer, 62, rechts von der Strasse ab und stürzte rund 30 Meter den Hang hinunter. Er brach sich fünf Hals- und zwei Rückenwirbel und wurde mit einem Helikopter der Rettungsflugwacht Rega ins Kantonsspital Chur geflogen. Nussbaumer zählt die hohe Geschwindigkeit und das Unterschätzen der Kurve als Ursachen für seinen Sturz. Nur dank einem Schneefeld, das seinen Sturz abfederte, habe er überlebt.
An der gleichen Stelle stürzten zwischen 2016 und 2022 zudem drei Töfffahrer. Zwei verletzten sich schwer, einer leicht. Zudem ereignete sich in der Kurve am 27. Juli 2022 ein Autounfall mit Blechschaden, wie eine Sprecherin des Kantons Graubünden auf Anfrage sagt.
Die Unfalldaten zeigen: Die Kurve, in der Mäder und Sheffield stürzten, ist die gefährlichste der ganzen Abfahrt. An keiner anderen Stelle der Strasse runter nach La Punt gab es in den letzten zehn Jahren mehr Schwerverletzte.
Bei allen fünf Unfällen verlor die Person am Steuer oder hinter dem Lenker ohne Fremdeinwirkung die Kontrolle über das Fahrzeug, als sie talwärts fuhr. Sollte also herauskommen, dass Mäder und/oder Sheffield ebenfalls ohne Fremdeinwirkung stürzten, wären sie nicht die Ersten, denen das an dieser Stelle passiert ist.
Natürlich ist beim direkten Vergleich Vorsicht geboten: Profirennfahrer sind keine Hobbyfahrer und Velos sind keine Töffs. Allerdings waren die Rennfahrer während der «Tour de Suisse» schneller unterwegs als die 80 Kilometer pro Stunde, die für Motorräder erlaubt sind.
Die Geschwindigkeit der Fahrer dürfte bei den Stürzen und den fatalen Folgen denn auch eine grosse Rolle gespielt haben. Der gestürzte amerikanisch-norwegische Fahrer Magnus Sheffield war wohl kurz vor der Kurveneinfahrt mit einer Geschwindigkeit von mehr als 90 Kilometern pro Stunde unterwegs.
Die Daten, die sein Velocomputer aufzeichnete und die auf der Plattform Strava abrufbar sind, zeigen vor der Kurve einen Wert von 94.6 Stundenkilometern. Wie schnell Mäder fuhr, ist nicht bekannt.
Die Strasse, die sich durch die Kurve schlängelt, ist minimal markiert. Aussenlinien fehlen, nur ein Mittelstreifen gibt Orientierung. Kein Schild und auch keine schwarz-weissen Dreiecke warnen davor, dass die Strasse gleich nach links zieht. Müssten diese angesichts der Unfälle der letzten Jahre nicht vorhanden sein?
Dem Kanton Graubünden, der für die Strasse zuständig ist, ist die Kurve bekannt. Schon vor den Unfällen vom 15. Juni habe man beschlossen, sich die Stelle vor Ort anzuschauen. «Diese Analyse soll dazu beitragen, mögliche Sicherheitsdefizite zu erkennen und gegebenenfalls Massnahmen zur Erhöhung der Sicherheit der Strasseninfrastruktur abzuleiten», sagt eine Sprecherin des Tiefbauamtes auf Anfrage dieser Zeitung.
Weil es in der Kurve aber über die letzten zehn Jahre nur eine «geringe Anzahl Unfälle» gegeben habe und diese zeitlich verteilt waren, stand sie «in der Priorisierung für die Umsetzung von Massnahmen nicht an erster Stelle».
Während der fünfte Etappe der Tour de Suisse forderten Streckenposten mit Kellen vor einigen Kurven die Fahrer auf, das Tempo zu reduzieren, nicht aber vor der Kurve, in der Mäder und Sheffiled stürzten. David Loosli, der sportliche Direktor der Rundfahrt, schickt voraus, dass ab einem gewissen Tempo keine Kurve harmlos sei, und erklärt dann: «Diese Kurve haben wir nicht als übermässig gefährlich eingeschätzt.» Die Organisatoren einer Rundfahrt könnten nicht überall warnen und wollen das auch nicht, sagt Loosli. Die Warnungen verlören sonst ihre Wirkung.
«Ein Rennfahrer fährt jeden Tag unzählige Kurven, wo er nicht weiss, was dahinter kommt. Es nützt ihm nichts, wenn bei jeder schwierigen Passage jemand mit einer Kelle steht», sagt Loosli.
Vom Unfall an der gleichen Stelle während eines Amateur-Rennens wusste das Tour-de-Suisse-Team nichts. Bei der Besprechung der Route mit dem Kanton sei das Thema nicht aufgekommen.
Sprecher Ueli Anken sagt, dass Ereignisse während eines Freizeitrennens oder Stürze von Motorradfahrern mit der Situation während eines Profirennens nicht vergleichbar seien. Und Loosli warnt: «Wir dürfen uns nicht der Illusion von absolut planbarer Sicherheit hingeben.» Es könne aber sinnvoll sein, Rennunfälle künftig in einer gemeinsamen Datenbank für Rennorganisationen einzuspeisen. Das Tour-de-Suisse-Team will nun die Untersuchung des Unfalls abwarten, bevor es weitere Schlüsse zieht.
An der Tour de France, deren vierte Etappe gestern in Nogaro mit einem Sprint und dem Sieg von Jasper Philipsen endete, ist Gino Mäder präsent. Sein Team Bahrain-Victorious hat die Startnummer 61 für ihn reserviert, die Fans pinseln seinen Namen auf die Strasse und die Kommentatoren beklagen immer wieder seinen fatalen Sturz während der fünften Etappe der Tour de Suisse. In jener Kurve, die viele unterschätzt haben. (aargauerzeitung.ch)
Vielen Dank.
Das ist die TdS (Berge = CH) und es waren Profis am Werk.
Wie der eine richtigerweise sagt, kann man nicht vor jeder Kurve Streckenposten postieren, welche zur langsameren Fahrt auffordern - dies würde komplett die Wirkung verlieren.
In dieselbe Richtung geht, dass ich komplett dagegen bin die Alpen mit Schildern bezüglich Absturzgefahr, Lawinengefahr etc vollzupflastern.
Wer sich in den Bergen abseits von Pisten / Wanderwegen bewegt, muss sich proaktiv informieren. Sonst haben wir bald ein Alpen-Disneyland.