Drei der ersten zwölf Etappen hat Tadej Pogacar gewonnen, seit dem zweiten Tag trägt er die Maglia Rosa. Sein Vorsprung auf den ersten Verfolger im Gesamtklassement, Daniel Martinez, beträgt 2:40 Minuten. Nach der ersten von drei Wochen und noch vor der Königsetappe vom Sonntag ist nicht absehbar, wer ihn beim Giro d’Italia herausfordern soll.
Ein Sturz vielleicht? Oder eine Erkrankung. Immerhin gab es wegen einer Krankheitswelle schon zahlreiche Aufgaben. Ein erklecklicher Teil des Pelotons hustet und ist mit blassen Gesichtern unterwegs. Auch der Slowene klagte über eine verstopfte Nase. Vielleicht seine Pollenallergie oder eine Erkältung. «Es nervt, aber ich komme damit klar», sagte er. Pogacar scheint unschlagbar.
Tadej Pogacar 𝙩𝙚𝙖𝙧𝙨 𝙖𝙥𝙖𝙧𝙩 the competition in Stage 7 of the Giro d'Italia 👀
— Eurosport (@eurosport) May 10, 2024
From 44 seconds down at the bottom of the climb, he crosses the line 17 seconds ahead of nearest rival Filippo Ganna 🏁#Giro2024 | @TamauPogi | @TeamEmiratesUAE pic.twitter.com/WdH1v584W9
Dass er in fast jeder Etappe um den Sieg mitfährt, kommt nicht bei allen im Feld gut an, glaubt der 25-Jährige und sagt: «Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass ich einigen Jungs richtig auf die Nerven gehe. Aber ich fahre nun einmal für das Team, das mich bezahlt, und meine Kollegen, die sich hier für mich den Hintern aufreissen.»
Zwar lieferte die 107. Ausgabe der Italien-Rundfahrt auf fast jeder Etappe Spektakel, nur: In der wichtigsten Kategorie, im Kampf um den Gesamtsieg, sorgt Tadej Pogacar für die befürchtete Langeweile.
Verantwortlich dafür sind die Organisatoren. Um Tadej Pogacar und sein Team UAE Emirates von der Teilnahme zu überzeugen, planten sie eine Rundfahrt, die dem Slowenen auf den Leib geschneidert ist. Das erste von zwei Zeitfahren endete mit einem sechs Kilometer langen Schlussanstieg. Pogacar gewann nicht nur, sondern knöpfte Martinez fast zwei Minuten ab. Den Grundstein für den Sieg hat er gelegt.
Zudem reduzierte der Giro-Veranstalter RCS Sport das Total der Höhenmeter im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent – von 51’500 auf 44’650. Nun ist es nicht so, dass Pogacar nicht auch mit mehr Höhenmetern klarer Favorit gewesen wäre. Doch er fährt eben nicht gegen den Rest des Feldes, sondern für die Geschichte. Und dafür muss er im Hinblick auf die Tour de France frisch bleiben. Die Grande Boucle beginnt fünf Wochen nach dem Ende des Giro d’Italia, am 29. Juni.
Damit Pogacar im Sommer und Herbst in Bestform ist, hat sein Team den Trainingsumfang reduziert und den Kalender ausgedünnt. Bis zum Giro d’Italia stand der Slowene nur an zehn Renntagen im Einsatz – die er dann zu sieben Siegen nutzte, darunter bei den beiden Eintagesrennen Strade Bianche und Lüttich–Bastogne–Lüttich.
Davor weilte Tadej Pogacar während drei Wochen im Höhentrainingslager in der spanischen Sierra Nevada, während seine Konkurrenten die Baskenland-Rundfahrt bestritten. Im Hinblick auf die Tour de France spielte ihm in die Karten, dass es dort zu einem Massensturz kam, in den die drei meistgenannten Anwärter auf den Gesamtsieg involviert waren.
Pogacars Landsmann Primoz Roglic, 34, kam mit einer Knieverletzung glimpflich davon, während sich der Belgier Remco Evenepoel, 24, das Schlüsselbein und ein Schulterblatt brach.
Am schlimmsten erwischte es den Dänen Jonas Vingegaard, der die Tour de France zuletzt zwei Mal in Folge gewonnen und Pogacar zwei Mal auf Rang zwei verwiesen hatte. Er brach sich das Schlüsselbein und mehrere Rippen. Dazu erlitt er eine Lungenquetschung und einen Pneumothorax, bei dem Luft in den Spalt zwischen Lunge und der Brustwand eindringt. Das kann lebensbedrohlich sein.
Auch weil die profiliertesten Rundfahrten-Spezialisten derzeit verletzt sind, lag den Giro-Organisatoren viel daran, Pogacar von einem Start zu überzeugen. Deshalb rollten sie dem Slowenen nicht nur mit der Strecke den roten Teppich aus, sondern unterbreiteten ihm dazu auch noch ein «unmoralisches Angebot» («Gazzetta dello Sport») und zahlten eine «signifikante Antrittsgage». Unbekannt ist, wie hoch diese angesetzt ist.
Mit Blick auf die Spannung im Gesamtklassement muss man sagen: Es war ein teures Eigentor. Was paradox klingen mag: Noch grösser könnte der Schaden nur werden, wenn Pogacar am Ende doch nicht gewinnt, weil er stürzt oder erkrankt. Unvergessen ist, wie er im Vorjahr bei der Tour de France wegen einer Herpes-Infektion einen kapitalen Einbruch erlitt.
Zwar wünscht man sich Pogacar als Sieger, spannend sollte es dann aber doch sein. Weshalb man bereit ist, den Preis der Langeweile zu bezahlen? Weil der Giro d’Italia wieder aus dem Schatten der Tour de France treten will und künftig alle Spitzenfahrer anlocken will. Das Kalkül: Pogacar tritt den Beweis an, dass man beide Rundfahrten im gleichen Jahr gewinnen kann.
Tadej Pogacar war noch nicht geboren, als Marco Pantani 1998 nach dem Giro d’Italia auch noch die Tour de France gewann. Der 2004 verstorbene Italiener war der Letzte, dem dieses Kunststück im gleichen Jahr gelang.
Vor ihm hatte das nur ein Sextett geschafft. Nicht weniger als drei Mal der Belgier Eddy Merckx (1970, 1972 und 1974), je zwei Mal der Italiener Fausto Coppi (1949 und 1952), der Spanier Miguel Indurain (1992 und 1993) und der Franzose Bernard Hinault (1982, 1985) und je einmal sein Landsmann Jacques Anquetil (1964) und der Ire Stephen Roche (1987).
Roche ist neben dem Eddy Merckx der einzige Fahrer, der im gleichen Jahr auch noch Weltmeister wurde und sich damit die «Triple Crown of Cycling» aufsetzte.
Nicht weniger als das sieht das Drehbuch für Pogacar vor. Mit auf 273,9 Kilometern verteilten 4470 Höhenmetern ist ihm der selektive Kurs des WM-Strassenrennens in Zürich (29. September) auf den Leib geschneidert.
Pogacar hat noch nie zwei Grand Tours (Giro d’Italia, Tour de France und Vuelta) in einem Jahr bestritten. Nun, in seiner sechsten Saison als Profi, fühlt er sich bereit, in der Radsport-Olymp aufzusteigen.
(aargauerzeitung)