Innovation gehört nicht zu den Stärken des organisierten Schweizer Sports. Olympiachef Ralph Stöckli erkannte selbst nach den erfolgreichen Olympischen Spielen in Tokio Potenzial: «Wir sind ein sehr innovatives Land. Aber der Spitzensport profitiert davon noch zu wenig», sagte der ehemalige Curler.
Eine Gruppe von Sportfunktionären folgt diesem Aufruf jetzt auf eine ebenso neuartige wie kreative Weise. Die bei Olympia höchst populäre, in der Schweiz jedoch praktisch inexistente Sportart Shorttrack soll in den kommenden Jahren quasi auf der grünen Wiese von Null an aufgebaut und zum Erfolg geführt werden. Es ist der einzige Wintersport, in dem noch nie eine Athletin oder ein Athlet aus der Schweiz bei Olympischen Spielen teilnahm.
«Die Vision ist eine Medaille an den Winterspielen 2034», sagt Mike Kurt. Der ehemalige Olympiateilnehmer im Kanu und heutige Vertreter im Exekutivrat von Swiss Olympic ist der geistige Vater dieses einzigartigen Projekts. Er, der sich auch als Unternehmer in Sachen Sport sieht und bereits mit dem Aufbau der Crowdfunding-Plattform «I believe in you» eine nachhaltige Duftmarke hinterlassen hat, weibelt seit eineinhalb Jahren für die Idee. Obwohl er in kurzer Zeit Bemerkenswertes erreicht hat, ist sein Weg als Präsident des Fördervereins «Shorttrack – Swiss Ice Movement» noch lange nicht am Ziel.
Ein Meilenstein ist der allererste Sichtungstag im neuen Sportzentrum «OYM» in Cham am Wochenende. Ab 1. Januar 2022 wird diese von Multimillionär und EVZ-Verwaltungsratspräsident Hans-Peter Strebel ins Leben gerufene ganzheitliche Ausbildungsstätte das nationale Leistungszentrum für Shorttrack. Vier junge Athletinnen und Athleten sollen den Mittelpunkt ihres Sportlebens künftig nach Cham verschieben, um die Aushängeschilder des entstehenden Nationalkaders zu sein. Der Kanadier Jeff Kitura, seit einem Jahr Cheftrainer der Schweizer Speedskater, hat den Auftrag, insgesamt rund zehn verheissungsvolle Talente für die künftige Trainingsgruppe zu finden.
Mit Ausnahme der zwei Westschweizer Talente Alexia Turunen und Thibault Métraux, welche für die Teilnahme an den Olympischen Jugendspielen 2020 in Lausanne aufgebaut wurden, existiert kein «Fachpersonal». Deshalb fokussiert man auf sogenannte Transfersportarten und kommen Athletinnen und Athleten aus verwandten Disziplinen zu den ersten Leistungstests nach Cham. Drei Eiskunstläuferinnen sind dabei, Eishockeyspieler, Inlineskater und sogar eine Geräteturnerin. Die wenigsten standen je auf den speziellen Shorttrack-Kufen. Entsprechend sind die ersten Versuche auf dem Eis für viele eine Art Eiertanz.
Dass auch eine gewisse Routine noch keine Garantie bedeutet, in den engen Kurvenradien auf den Füssen zu bleiben, muss der Basler Dietrich Varaklis am Sichtungstag schmerzhaft erfahren. Der ehemalige Hockeyaner hat im vergangenen Sommer zum Shorttrack gefunden und sich an den beiden ersten Wettkämpfen gleich für die Universiade in Luzern qualifiziert. Daraus wird nun nichts. Bei einem Sturz im Speedtest prallt der 22-Jährige derart unglücklich mit den Beinen voran in die gepolsterte Bande, dass die Bänder in seinem Fussgelenk gleich mehrfach reissen. Stürze sind nun mal Teil dieser höchst spektakulären Disziplin.
Eine Sportart, für deren Entwicklung die Schweiz im Grunde perfekte Voraussetzungen bietet. Eine lange Tradition im Eissport, die höchste Dichte an Eisfeldern in Westeuropa, eine Weltklasse-Infrastruktur im OYM sowie eine gut abgesicherte Finanzierung.
Dieser Meinung ist auch Olympiachef Ralph Stöckli: «In der Schweiz haben wir das Potenzial, die notwendigen Bedingungen zu schaffen, um künftig im Shorttrack Weltklasseleistungen zu erbringen». Swiss Olympic unterstützt den Aufbau deshalb auch während vorerst drei Jahren mit einem namhaften Betrag, selbst wenn die Sportart viele Leistungskriterien noch nicht erfüllt.
Erfolgreiche Überzeugungsarbeit, um das jährliche Budget von 100'000 Franken zu stemmen, hat der Vorstand von Swiss Ice Movement mit Präsident Mike Kurt sowie Jan Caflisch vom Eissportverband auch beim Kanton Zug und bei OYM-Besitzer Hans-Peter Strebel geleistet.
Strebel liess sich die Vorzüge dieser Sportart eigens bei einem Wettkampfbesuch in Holland erklären. Nun hat er seinen wissenschaftlichen Mitarbeiter Thomas Wüthrich ins Leitungsgremium berufen. Auch er ist angetan von der Idee: «Ein innovatives und kommerziell attraktives Produkt von Grund auf zu entwickeln passt sehr gut zur Philosophie im OYM. Das Projekt ist ein spannendes Testfeld und kann ein Innovationstreiber für den gesamten Schweizer Sport werden.»
Ein zweiter Sichtungstag am 4. Dezember soll das Kandidatenfeld für die erste Generation von Athletinnen und Athleten erweitern. Aus ihnen wird noch kein Olympiasieger. Dazu braucht es einen jahrelangen Aufbau. Eine weitere Vision von Mike Kurt soll dabei helfen: «Jeder Eishockeyclub in der Schweiz hat eine eigene Shorttrack-Abteilung.» Um die Vereine zu überzeugen, damit eine Win-Win-Situation zu schaffen, weibelt Kurt mit grossem Herzblut. Und mit einflussreichen Unterstützern im Hintergrund.