Fatih Arda İpcioğlu strahlt dieser Tage die Leichtigkeit des Seins aus. Der 24-jährige Skispringer scheint auf Wolke sieben zu schweben, nachdem er zum Auftakt der Vierschanzentournee in Oberstdorf als erster Türke überhaupt den Finaldurchgang erreichte und als 29. überraschend zwei Weltcuppunkte sammelte.
«Ich bin wirklich glücklich, Geschichte geschrieben zu haben», sagte İpcioğlu gegenüber t-online am Rande der Qualifikation zum zweiten Tournee-Springen in Garmisch-Partenkirchen. Das breite Grinsen war dem «Turkish Flyer», wie er in seiner Heimat genannt wird, auch unter der grossen weissen Maske und dem schwarzen Helm mit einem goldenen türkischen Halbmond anzusehen – auch wenn es ihm letztlich knapp nicht zur Teilnahme am Neujahrsspringen reichte.
Im Vergleich zu den Topstars aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz hört sich ein 29. Rang nicht übermässig berichtenswert an. Allerdings hat İpcioğlu auch ganz andere Voraussetzungen. Er stammt aus dem türkischen Wintersportzentrum Erzurum in Ostanatolien, das auf rund 1500 Metern liegt. Dort gibt es einen Wintersportstützpunkt mit Sprungschanzen und Eishockeyhallen. Mit mitteleuropäischen Standards ist İpcioğlus Training in Erzurum allerdings nicht unbedingt vergleichbar.
Die Schanze dort ist nicht präpariert. Deshalb kommt er nur auf rund 460 Sprünge im ganzen Jahr. So viele absolvieren die Springer aus Deutschland, Österreich oder Polen allein im Sommer. Doch seitdem Frank Nejc neuer Trainer der türkischen Mannschaft ist, hat sich einiges getan. «Wir trainieren im Schnitt 40 bis 50 Tage in Slowenien, dann geht es für die Jungs in die Heimat zurück. Dort können sie dann nur Athletiktraining machen», sagte Nejc, der zuvor neun Jahre Co-Trainer der Slowenen war, der Zeitung «Die Welt».
Und dieses Konzept geht offenbar besonders bei İpcioğlu auf. Das scheint auch in der Heimat nicht verbogen zu bleiben – vor allem nach seinem historischen Ergebnis in Oberstdorf. Wie viele Interviews er in den vergangen Tagen gegeben hat, zählt der Lehramtsstudent gar nicht mehr. Er sagt nur mit einem Lächeln: «Es waren wirklich sehr viele.»
Und diese Aufmerksamkeit geniesst İpcioğlu sichtlich. «Der Medienhype ist toll. Denn in den letzten Jahren hat kaum wer mitbekommen, dass wir Türken überhaupt skispringen», erklärt er gegenüber t-online. «Die Aufmerksamkeit jetzt macht mich glücklich und motiviert mich zusätzlich – auch weil wir die türkische Kultur und den türkischen Wintersport erklären können.» Als stressig empfinde er das während der eigentlich anstrengendsten Tage des Skispringer-Jahres überhaupt nicht.
Und das verwundert kaum. Denn obwohl İpcioğlu der bekannteste Wintersportler seines Landes ist und bei den Olympischen Spielen in Pyeongchang sogar Fahnenträger war, fristet Skispringen in der Türkei ein Nischendasein. «Wir haben keine Skisprungkultur wie beispielsweise Deutschland oder Polen», gibt er offen zu. Sponsoren stehen nicht gerade Schlange. Und während die Spitzennationen nur für die Vierschanzentournee vier Sprunganzüge haben, muss Student İpcioğlu, der aktuell seine Master-Arbeit schreibt, damit durch die gesamte Saison kommen.
Doch daran könnte sich bald etwas ändern. «Ich weiss nicht genau, wie viele Menschen in der Türkei Skispringen im TV verfolgen, aber meinen Sprung am Dienstag in Oberstdorf haben auf meinem Twitter-Profil knapp 500'000 Menschen gesehen», erklärt İpcioğlu.
İtina ile tarih yazılır ✍🏼🚀🇹🇷 bugün 4 tepe turnuvasının ilk ayağında eleme yarışmasını geçerek 4 tepe turnuvalarında finale kalan ilk Türk olmayı başardım. #fatihardaipcioğlu pic.twitter.com/WCHJaXeaeE— Fatih Arda İpcioğlu (UÇAN TÜRK)🚀🇹🇷 (@ArdaIpcioglu) December 28, 2021
Doch damit nicht genug. Einen Trainingssprung aus dem September haben über das Instagram -Profil des 24-Jährigen sogar 15 Millionen verfolgt . «Das zeigt: Die Leute in der Türkei sind an Skispringen interessiert.»
Dabei wollte seine Mutter eigentlich gar nicht, dass İpcioğlu mit dem Skispringen beginnt, als der als Kind begeisterte Skifahrer diesen Sport mit 13 Jahren für sich entdeckte. «Meine Mutter sagte: ‹Geh da nicht hin, das kannst du nicht machen, das ist viel zu gefährlich.›» Damit sollte sie nicht unrecht haben, denn vor sieben Jahren brach sich ihr Sohn im Training beide Beine.
Heute scheint İpcioğlu diesen Horror-Verletzungen keine grössere Bedeutung mehr beizumessen. «Es ist doch so: Steht man auf und macht weiter, ist alles möglich. Bleibt man liegen, ist es vorbei. Ich bin aufgestanden.»
Diese Attitüde könnte ihn im Weltcup noch weiter nach oben führen – zumindest nach Einschätzung seines Trainers. «Alles ist möglich. Wir haben noch viel Arbeit vor uns, aber er bringt physisch alle Voraussetzungen mit», so Nejc.
Und auch İpcioğlu selbst hat seine Ansprüche. Im Hinblick auf eine Top-10-Platzierung sagt er: «Ich traue mir schon zu, alle zu überraschen.» Wenn es nach seiner Mutter geht, soll damit noch lange nicht Schluss sein. Die träumt nun nämlich schon davon, dass er aufs Podest springt. Das sie sich einmal so etwas wünscht, hätte sie sich vor elf Jahren sicher nicht vorstellen können.