Wer keine Berührungsängste mit sozialen Medien hat, kann am Leben von Lindsey Vonn teilnehmen. Denn mit privaten Inhalten geizt die US-Amerikanerin nicht. Wenn ihr Hund Leo an Krebs erkrankt, gibt es einen Beitrag. Am Todestag ihrer Mutter, Beitrag. Wenn sie im Operationssaal liegt, selbstverständlich, Beitrag.
Und nun ist das Beste eingetroffen, was ihren Social-Media-Kanälen passieren konnte: das Comeback im Ski-Weltcup, mit 40 Jahren und einer Teilprothese im Knie.
Am vergangenen Freitag wurde es offiziell: Lindsey Vonn bestreitet die beiden Super-G in St.Moritz (Samstag/Sonntag). Die 82-fache Weltcupsiegerin, die einst die Speed-Disziplinen dominierte, kehrt zurück. Für die Weltcup-Destination im Oberengadin ist das ein Weihnachtsgeschenk. Vonns Comeback ist ein Argument mehr, um am Wochenende nach St.Moritz zu reisen.
Gegenüber CH Media stellten die Organisatoren einen Zuschauerrekord in Aussicht: «Der Ticketverkauf läuft bis jetzt über den Vorjahreszahlen. Wenn es so weiter geht, ist ein neuer Verkaufsrekord durchaus in Reichweite.» Hilfreich ist auch das Datum, denn normalerweise findet der Weltcup von St.Moritz früher im Dezember statt. Jetzt, kurz vor den Festtagen, sind auch die Feriengäste schon da.
Doch eine Frage scheint für Aussenstehende immer noch unlösbar: Warum nur? Warum gibt Vonn ein Comeback nach knapp sechsjähriger Abwesenheit? Nachdem sie 2019 bei ihrem Rücktritt doch gesagt hatte, ihr Körper «schreie ihr zu», dass sie stoppen solle.
Am Mittwoch verlor Vonn ein paar Gedanken dazu. «Egal was die Leute sagen, ich tue das für mich, ich brauche weder das Rampenlicht noch die Aufmerksamkeit.» Nichts sei besser, als mit 130 Stundenkilometern einen Hang runterzufahren, schrieb sie auf Instagram. «Das Leben ist zu kurz, um an der Seitenlinie zu sitzen. Lasst uns wieder ins Spiel kommen», war zu lesen. Vonn, die Liebhaberin, die nichts lieber macht als schnell Skifahren.
Nicht ganz so romantisch betrachteten ehemalige Ski-Grössen das Vorhaben. Von Bernhard Russi, Sonja Nef oder Pirmin Zurbriggen war Kritik zu vernehmen. «Irgendwann musst du doch sagen: Es sind andere, jüngere da – meine Zeit ist vorbei», sagte Zurbriggen im Blick. Vonn sah sich gezwungen, auf X eine Replik zu schreiben: «Jetzt reicht es. Bernhard, Sonja und jetzt Pirmin. Gibt es einen Grund, warum alle ehemaligen Schweizer Skifahrer so denken?»
Hört man den aktiven Athletinnen zu, scheint hingegen viel Wohlwollen vorhanden zu sein. Die Italienerin Sofia Goggia stellte sich nach ihrem Sieg in Beaver Creek vor die Fernsehkamera und bedankte sich bei Lindsey Vonn für die wertvollen Tipps. Vonn war Vorfahrerin und funkte Goggia ihren Wissensvorsprung an den Start – beide werben auf ihrem Helm, wie etwa auch Marco Odermatt, für Red Bull. Gemäss handgestoppten Zeiten hätte Vonn die Plätze 9 (Abfahrt) und 20 (Super-G) belegt. Es sind beachtliche Leistungen.
Anerkennung ist auch bei den Schweizerinnen zu vernehmen. Joana Hählen sagt vor den Rennen in St.Moritz: «Dieses Comeback ist sicher gut für den Skirennsport. Dass sie in Beaver Creek so stark war, hat mich überrascht.» Priska Ming-Nufer sagt: «Sie hat es definitiv nicht verlernt. Ich persönlich kann mir ein solches Comeback nicht vorstellen, aber ich weiss auch nicht, wie es ist, in einem 40-jährigen Körper zu stecken.»
Eine, die Lindsey Vonn nur aus der Ferne kennt, ist die 22-jährige Delia Durrer. Für das Speed-Talent aus Nidwalden ist es erst die dritte Weltcup-Saison, Vonn gab bereits 2019 den Rücktritt. «Sie ist ein Kindheitsidol für mich. Ich kenne sie eigentlich nur aus dem Fernsehen. Sie war damals so auf einem anderen Level als ich. Jetzt kann ich im gleichen Rennen am Start stehen, das ist schon sehr cool», sagt Durrer. Ein bemerkenswerter Satz rutscht ihr auch noch raus: «Aber ich schaue jetzt nicht auf sie. Du orientierst dich an den Besten.»
Zu den Besten gehört Lara Gut-Behrami, die Gesamtweltcupsiegerin der vergangenen Saison. Gut-Behrami äussert sich selten über Konkurrentinnen. Nun sagt sie: «Ich hoffe, dass ich mit 40 Jahren ein paar Kinder habe und das Leben mit meinem Ehemann geniesse.» Vielleicht sei sie schon noch auf der Skipiste anzutreffen, meint Gut-Behrami, «aber sicher nicht im Renndress». Und am Ende fügt sie an: «Aber jede darf machen, was sie will.»
Vielleicht hilft ein Zitat aus dem Archiv, um zu erahnen, wie Gut-Behrami denken könnte. 2016, als sie sich mit Vonn ein Duell um den Gesamtweltcupsieg lieferte, sagte die Tessinerin: «Sie macht immer Theater, es ist nicht das erste Mal. Und es wird auch nicht das letzte Mal sein.»
Und normalerweise spielt Lindsey Vonn nicht bloss eine Nebenrolle. Das dürfte auch an diesem Wochenende in St.Moritz so sein.
Nein, sie ist nicht unlösbar. Menschen, und oftmals wir Schweizer, habe einfach immer das Gefühl, es müsse mehr dahinterstecken und eine rationale Erklärung für solche Dinge geben. Man vergisst, dass viele Sportler:innen ihre Sportart und das ganze Rundherum so lieben. Wieso sind ein Christof Innerhofer oder ein Simon Amman immer noch dabei?
Lasst diese Leute das machen, was sie machen wollen. Und wenn es ein Comeback à la Vonn oder Hirscher gibt, dann gönnt es ihnen doch einfach.