Als Justin Murisier im Weltcup debütierte, wurde er mit den ganz Grossen des Skisports verglichen. Doch sein Weg verlief anders. Statt zum Seriensieger wurde er zum Dauerpatienten. Es brauchte 14 Jahre und fünf Knieoperationen, bis er zu dem wurde, was er immer sein sollte: ein Sieger.
Sie galten als Riesentalent. Doch Sie mussten 32 Jahre alt werden, bis Sie vor zwei Wochen Ihr erstes Weltcuprennen gewinnen konnten. War das eine Art Happy End?
Justin Murisier: Happy ja, End sicher nicht (lacht). Ich habe schon vor dieser Saison gesagt, dass ich noch fünf Jahre fahren möchte. Aber dieser Sieg hat mir eine neue Perspektive gegeben. Ich war bisher immer ein wenig zwischen den Stühlen und stellte mir die Frage: «Bin ich nun Techniker oder Abfahrer?» Nun kann ich meine Ziele mit gutem Gewissen auf den Speedbereich verlagern.
Als Sie Ende 2020 nach einer endlos langen Verletzungsgeschichte Ihren ersten und zuvor einzigen Podestplatz feierten, sagten Sie, dass alles, was jetzt noch komme, Zugabe sei.
Ich glaube, viele unterschätzen, wie schwierig es ist, sich nach vorne zu kämpfen. Wir sehen, was Marco Odermatt leistet, und denken, dass sei normal. Aber das ist es nicht.
War Ihr Premierensieg für Sie besonders speziell, weil er in der Abfahrt passierte?
Ich habe immer davon geträumt, dass aus mir irgendwann ein Abfahrer wird. Aber als ich mit 29 entschied, es zu wagen, musste ich feststellen: «Boah, da liegt noch ein weiter Weg vor mir.» Ich habe mir gedacht, vielleicht fahre ich einmal in die Top 10. Oder auf das Podest. Aber jetzt ein Sieg?
Sie teilen sich im Weltcup das Zimmer mit Marco Odermatt. War es ein besonders spezieller Moment, den Sieg mit ihm zu feiern? Schliesslich wurde Odermatt Zweiter.
Besser hätte es tatsächlich fast nicht laufen können. Marco hat mir dann auch noch die rote Startnummer für den Führenden im Abfahrtsweltcup überreicht. Klar, es war die erste Abfahrt der Saison. Aber trotzdem ist diese Nummer noch so ein Traum, der für mich in Erfüllung ging.
Apropos Marco Odermatt. Alle werden immer wieder auf ihn angesprochen. Sie haben das in der Vergangenheit auch schon kritisiert.
Zuerst: Es geht da nicht um Eifersucht. Überhaupt nicht. Aber manchmal kommst du ins Ziel, hast ein gutes Ergebnis erzielt, aber alle wollen von dir nur etwas über Marco wissen. Seine Erfolge sind beeindruckend und schön für den Skisport. Aber für alle anderen Athleten kann das auch zur Last werden. Er steht fast immer allein im Rampenlicht. Und wir anderen sehen daneben wie Clowns aus, weil wir nicht das Gleiche leisten können wie er.
Wie sehen Sie Ihre Rolle im Team? Sie gelten als einer, der für gute Laune sorgt.
Es stimmt, ich bin einer, der es mag, wenn die Stimmung locker ist. Wir sind rund 220 Tage im Jahr unterwegs, wenn da die Stimmung schlecht ist, setzt mir das zu. Wir leben nur einmal. Und dann ist es egal, ob man gewonnen hat oder nicht. Ich finde es sehr wichtig, dass wir auch geniessen, was wir machen. Wie viele träumen von einem Leben wie unserem?
Wer ist schwieriger zum Lachen zu bringen: die Deutschschweizer oder die Welschen?
Ich bin ja fast nur mit Deutschschweizern unterwegs. Mittlerweile weiss ich, was es braucht (lacht). Wir sind aber alle ziemlich humorvoll unterwegs, ich stosse da mit meinen Witzen an keine Grenzen.
Hat der Humor Ihnen auch geholfen, die schwierigen Zeiten in Ihrer Karriere zu überstehen?
Ja, definitiv. Jeder Athlet kennt Hochs und Tiefs. Und klar, wenn man wirklich am Boden liegt, ist es schwierig, zu lachen. Aber ich bin einer, der gerne das Positive sieht und sich nicht lange mit negativen Dingen beschäftigen will. Darum verzichte ich nach schlechten Rennen auch meist auf die Videoanalyse. Ich will schliesslich nicht sehen, wie ich schlecht fahre. Am Ende würde sich das noch in meinem Kopf festsetzen.
Dafür führen Sie vor dem Start Selbstgespräche.
Ja, weil mir das auf meinem Weg sehr geholfen hat. Ich verstehe Französisch, Deutsch, Englisch und ein wenig Italienisch. Ich habe am Start also immer mitbekommen, was alles rund um mich herum gesprochen wurde. Ich konnte mich so nicht mehr konzentrieren. Darum habe ich begonnen, mit mir selbst zu sprechen. Früher auch während der Rennen. Aber mittlerweile nicht mehr.
Und was sagen Sie zu sich?
Es sind vor allem skitechnische Sachen, die ich im Kopf durchgehe. Alles positive Dinge. Ich vermeide zum Beispiel das Wort «Nicht». Ich will meinem Kopf sagen, was er machen soll. Und nicht, was er nicht machen soll. Da geht es zum Beispiel um die Bewegungen meiner Arme. Oder wie die Hüfte nach vorne muss.
Stimmt es, dass Sie unter dem Renndress einen Slip tragen?
(Lacht.) Ja, das stimmt tatsächlich. 2018 teilte ich in Sölden mit Didier Défago (ehemaliger Skiprofi; die Red.) das Zimmer. Und ich sah, dass er einen Slip trug und war verwirrt. Ich, als junger Mann, trug selbstverständlich breite Boxershorts. Also habe ich ihn gefragt, warum er solche Unterhosen trage. Und er meinte, weil sie unter dem engen Renndress bequemer und vor allem aerodynamischer sind. Irgendwann habe ich selbst einen Slip gekauft, um es zu probieren. Und ich muss wirklich sagen, es ist besser.
Und was sagen Ihre Kollegen dazu?
Sie haben gleich viel gelacht wie ich damals mit Didier. Offenbar spielt auch die Farbe eine Rolle. Als ich mal wieder verletzt war, habe ich von Marc Rochat und Luca Aerni (Schweizer Slalomfahrer; die Red.) pinke Slips geschenkt bekommen. Ich fand das cool. Weil es so gar nicht zu den vermeintlich mutigen Abfahrern passt. Darum habe ich sie getragen.
Sie sind bekannt als bunter Hund. Woher kommt das?Ich war schon immer ein Rebell. Auch in der Schule. Wenn es heisst, tu das nicht, mache ich es erst recht. Ich bin für Autoritätspersonen nicht der einfachste Umgang (lacht). Ich habe zum Beispiel als junger Erwachsener auch mehrmals meinen Führerschein verloren, weil ich mich nicht wirklich an Regeln halten konnte.
Sie waren ein Raser?
Nein, das nicht. Aber ich hatte meinen Führerschein als Junglenker auf Probe. Und ich wurde zu einem Wiederholungstäter. Darum musste ich das Billett mehrmals und teils länger abgeben. (aargauerzeitung.ch)