Nach 46 Sekunden war es vorbei: Die italienische Boxerin Angela Carini gab den olympischen Wettkampf am Donnerstag auf. Grund waren die starken Schläge ihrer algerischen Gegnerin Imane Khelif.
Angela Carini just pulled out of her fight against Imane Khelif - a man.
— Brandubh (@brandubh4) August 1, 2024
Seconds into the fight yet she knew the danger she was in.
Her Olympic dreams gone for the sake of "inclusion".
Shame on you @iocmedia. You're a disgrace. pic.twitter.com/5rL1wu2g2V
Die Szene sorgt insbesondere in den sozialen Medien für Aufruhr. Wütende Stimmen verlangen, dass trans Menschen von sportlichen Wettbewerben ausgeschlossen werden sollen. Nur: Imane Khelif ist aber nicht trans. In Algerien ist es illegal, sein rechtliches Geschlecht zu ändern. Und da in Khelifs Pass steht, dass sie eine Frau ist, war sie das – rechtlich gesehen – schon immer.
Die Sachlage dürfte dennoch etwas komplizierter sein. 2023 wurde Khelif vor dem Weltmeisterschaftsfinale wegen zu hohen Testosteronwerten disqualifiziert. Angaben zu der Art des durchgeführten Tests wurden damals keine gemacht, weitere Erklärungen gab es nicht.
Dennoch könnte der angeblich hohe Testosteronspiegel darauf hinweisen, dass Khelif eine Geschlechtsvariation hat – also dass sie intergeschlechtlich ist.
Intergeschlechtlichkeit ist weder eine Krankheit noch etwas, das man sich aussucht. Sie ist ein natürlich auftretendes Phänomen. Doch wegen seiner Seltenheit stellt Intergeschlechtlichkeit die Menschheit schon seit jeher vor Fragen.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Je besser die Menschheit versteht, was Intergeschlechtlichkeit ist, desto mehr Debatten tun sich in unserer Gesellschaft auf.
Bis ins 19. Jahrhundert nannte man Personen, deren Geschlechtsvariation nicht klar den Kategorien männlich oder weiblich zugeordnet werden konnten, «Hermaphroditen». Die Bezeichnung wurzelt in der griechischen Mythologie und zeugt von einer bereits Jahrtausende alten Thematik.
Namensgeber ist Hermaphroditus, der Sohn von Hermes und Aphrodite. Als Junge geboren, wurde er auf Wunsch von Salmacis, einer Nymphe, durch das Eingreifen der Götter mit ihr vereinigt und lebte fortan als Halb-Mann und Halb-Frau. Trotz dieses göttlichen Ursprunges wurden «Hermaphroditen» im antiken Griechenland als eine Bedrohung der sozialen Ordnung und als Warnung verstanden.
Im Mittelalter und bis in die frühe Neuzeit, ca. 1500, wurden intergeschlechtliche Menschen als Monstrositäten betrachtet, galten aber zugleich als etwas natürlich Bedingtes und als Zeichen der Schöpferkraft Gottes. Gemäss bestimmten römischen Gesetzen mussten sie ab dem 12. Jahrhundert dennoch den bei ihnen überwiegenden Geschlechtsmerkmalen nach entweder dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden.
Ab dem 16. und 17. Jahrhundert befasste sich die Medizin intensiver mit dem «Hermaphroditismus», was neue Fragen zur Ursache, Klassifikation und dem Status der «Hermaphroditen» hervorbrachte. Dies hing eng mit der Herausbildung der Anatomie als medizinische Disziplin Mitte des 16. Jahrhunderts zusammen, was zu immer detaillierteren Beschreibungen der Genitalien führte.
Im Zuge dieser Entwicklung wurden die «hermaphroditischen» Körper nicht mehr als Monstrositäten, sondern als pathologische Regelabweichungen verstanden. In anderen Worten: Intergeschlechtliche galten nicht mehr als aussergewöhnlich, sondern als unnatürlich.
Nach der Aufklärungszeit bemühte sich die Medizin um eine exakte Geschlechtsdiagnose. Sie legte deshalb neue Geschlechtskriterien fest. Zentral waren dabei insbesondere die Hoden, welche als eindeutig männliches Merkmal angesehen wurden.
Da sich die Hoden bei intergeschlechtlichen Menschen jedoch oft im Bauch befinden und somit nicht sichtbar sind, mussten die Mediziner bei älteren Patienten auf Hilfskriterien wie die Menstruation oder die sexuellen Neigungen zurückgreifen. Damit versuchten sie sich auch – ohne rechtlichen Anspruch – als Experten der Geschlechtszuweisung zu etablieren.
Mit dem Aufstieg der Keimdrüse als geschlechtsbestimmendes Organ (auch Gonaden genannt) rückten im 19. Jahrhundert auch die Eierstöcke als Gegenüberstellung der Hoden in den Fokus der Mediziner. Ab 1850 kamen mit dem Einsetzen der Hormonforschung und der Genetik weitere geschlechtsbestimmende Faktoren hinzu, was die Geschlechtszuweisung noch verkomplizierte.
Im frühen 20. Jahrhundert begannen die Ärzte allmählich eine grössere Rolle im Geburtsprozess zu übernehmen. Bei Anzeichen von Intergeschlechtlichkeit bestimmte daher der Arzt nach Untersuchung der Genitalien das Geschlecht des Kindes.
Geschlechtszuweisungen gestalteten sich aber als äusserst schwierig, da die verschiedenen geschlechtsspezifischen Merkmale oft widersprüchlich waren. So gibt es etwa Menschen, die genetisch männlich und physiologisch weiblich sind (Komplette Androgenresistenz, kurz CAIS). Sie besitzen also einen XY-Chromosomensatz, bilden Hoden im Unterleib, entwickeln sich äusserlich aber komplett weiblich. Aufgrund dieser Schwierigkeiten galt die Behandlung von Intersexuellen – wie sie ab 1917 genannt wurden – als umstritten.
Der US-amerikanische Urologe und Chirurg Hugh Hampton Young war einer der ersten Ärzte, der chirurgische Behandlungen in den Vereinigten Staaten anbot, die bis zu diesem Zeitpunkt eher unüblich waren. Ab 1915 begann er im Johns Hopkins Hospital chirurgische Techniken zu entwickeln und gründete 1916 das urologische Institut, womit er das Spital zu einem Zentrum für Menschen mit unbestimmbarem Geschlecht machte.
Da Fälle von Intergeschlechtlichkeit nicht immer schon bei der Geburt sichtbar sind, gab es auch Betroffene, die erst im fortgeschrittenen Alter einen Arzt aufsuchten. Theoretisch galten bis in die 1940er-Jahre die Gonaden (also Hoden oder Eierstöcke) als geschlechtsbestimmender Faktor, doch in Realität orientierten sich die Mediziner bei der Geschlechtsbestimmung von Erwachsenen meist an deren Erziehung.
Bald kam es zu medizinischen Kontroversen, da es Ärzte gab, welche bei chirurgischen Eingriffen die Wünsche und das «innere Leben» der Patienten berücksichtigten und sich nicht nur auf die Zusammensetzung der Gonaden stützten. Damit fand ein Wandel von der Bestimmung des wahren Geschlechts zur Bestimmung des besten Geschlechts statt, wobei das subjektive Empfinden der Patienten einbezogen wurde.
Die erste Operation an einem intergeschlechtlichen Kind wurde 1944 im Kinderspital Zürich durchgeführt. Zum Ende der 1940er-Jahre bezogen sich die Mediziner auch bei Neugeborenen vermehrt auf psychologische Faktoren, ohne dass jedoch Einigkeit über Intergeschlechtlichkeits-Theorien und -Behandlungen herrschte.
Als besonders einflussreich stellten sich ab den 1950er-Jahren die Theorien des Sexualwissenschaftlers John Money heraus. Er kam zum Schluss, dass die Geschlechtszuweisung anhand der körperlichen Merkmale gar nicht so wichtig sei, da die Betroffenen in die ihnen zugewiesenen Geschlechtsrollen hineinwachsen würden. Er empfahl daher, das Geschlecht des Kindes nach der Machbarkeit einer chirurgischen Anpassung zu bestimmen. Und weil es einfacher war, etwas zu entfernen, als etwas hinzuzufügen, wurden die meisten intergeschlechtlichen Kinder zu Mädchen operiert.
Indem die Medizin mit ihrem Fortschritt viele Rätsel um die Intergeschlechtlichkeit lüftete, stellte sie die Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Denn: Aus rein gesundheitlicher Sicht wäre eine medizinische Intervention bei einer Geschlechtsvariation höchst selten notwendig. Dennoch erschien es der Medizin aus sozialer Sicht wichtig, die Kinder gleich bei der Geburt dem einen oder anderen Geschlecht zuzuordnen.
Aus heutiger Sicht verstiessen solche frühen, vermeidbaren Eingriffe gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit, wie der Bundesrat 2016 festhielt. Sie hätten in vielen Fällen Leid verursacht. Wenn immer möglich, müsse mit irreversiblen Behandlungen zugewartet werden, bis das Kind alt genug sei und selbst darüber entscheiden könne.
In der Gesellschaft ist die Debatte nun bereits so weit, dass seit einigen Jahren über die Einführung eines dritten Geschlechts diskutiert wird. Dieses stünde nicht nur intergeschlechtlichen, sondern auch non-binären Menschen offen. Letztere haben in der Regel ein eindeutiges biologisches Geschlecht, identifizieren sich aber mit keinem der beiden Geschlechter – auch intergeschlechtliche Menschen können sich als non-binär identifizieren.
Während mit der Diskussion über die Einführung des dritten Geschlechts über Inklusion debattiert wird, diskutiert man im Sport um den Ausschluss von intergeschlechtlichen Athletinnen und Athleten.
Ein Regelwerk zum Umgang mit intergeschlechtlichen Sportlerinnen und Sportlern gibt es schon länger: Bereits bei den Olympischen Sommerspielen 1936 wurden erstmals medizinische Untersuchungen erlaubt, um das Geschlecht eines Athleten oder einer Athletin zu bestimmen. Bei den Olympischen Spielen 1968 führte das Internationale Olympische Komitee (IOC) dann erstmals Tests zur Überprüfung des chromosomalen Geschlechts im Sport ein. Diese wurden fortan standardmässig bei allen Frauen durchgeführt.
Ab 1996 wurden die Geschlechtstests nur noch bei Athletinnen und Athleten durchgeführt, bei denen ernsthafte Zweifel bezüglich ihres Geschlechts bestanden. 2012 änderte das IOC die Art der Überprüfung zu Hormontests. Auch World Athletics, der Dachverband aller nationalen Sportverbände für Leichtathletik, testet seit 2018 das Testosteron. Frauen mit zu hohem Testosteronspiegel müssen Medikamente einnehmen, um diesen zu senken und an den Wettkämpfen teilnehmen zu können.
Der bekannteste Fall ist wohl derjenige von Caster Semenya, einer südafrikanischen Mittelstreckenläuferin. Sie weigerte sich, testosteronsenkende Medikamente einzunehmen, weshalb sie von Wettbewerben ausgeschlossen wurde.
Wie ist das nun mit Imane Khelif? Nach wie vor gibt es keine offizielle Bestätigung dafür, dass Khelif intergeschlechtlich ist. Das IOC schreibt in einer Stellungnahme vom Donnerstag:
Das IOC weist zudem darauf hin, dass Imane Khelif sowie die Taiwanesin Lin Yu-ting (über die ebenfalls diskutiert worden ist) bereits seit Jahren an Spitzenwettkämpfen teilnehmen.
🚨🚨🚨 LE PRÉSIDENT DU CIO, THOMAS BACH S’EXPRIME SUR IMANE KHELIF :
— Algérie Football Média 🇩🇿 (@DZFOOTBALLDZ) August 3, 2024
« Imane Khelif est une femme. Elle est née femme, et elle combat avec les femmes. Il y’a ABSOLUMENT aucun doute sur ça.
Nous avons réalisé des test très poussés qui le prouvent. » pic.twitter.com/CdoTFiui8V
Dass Khelif aufgrund der plötzlichen Kontroverse vom laufenden Wettkampf ausgeschlossen wird, ist daher unwahrscheinlich.
Imane Khelif tritt heute im Viertelfinal um 17.22 Uhr gegen die Ungarin Luca Anna Hamori an.
* von der von Gazprom abhängigen und notorisch pro-russischen International Boxing Association (welche Russland & Belarus unsuspendiert und die Ukraine suspendiert hat und inzwischen vom IOC nicht mehr anerkannt wird), nachdem sie eine russische Boxerin besiegt hatte