Thandeka und ihre Freundin, 14 und 15 Jahre alt, wollen unbedingt dabei sein. In wenigen Minuten beginnt die letzte Runde im Strafprozess gegen Oscar Pistorius. Die beiden Mädchen stehen in ihren grün-gelben Schuluniformen vor dem Eingang des North Gauteng High Court in Pretoria und fragen sich, wie sie in das Gerichtsgebäude kommen.
Sie wollen den Angeklagten leibhaftig sehen, den Sprintstar, der es trotz seiner Behinderung zu Weltruhm brachte und dann so tief abstürzte.
Pistorius hat in der Nacht zum Valentinstag 2013 seine Freundin Reeva Steenkamp erschossen. Vorsätzlich, sagt die Staatsanwaltschaft. Versehentlich, beteuert der Angeklagte, er habe sie für einen Einbrecher gehalten.
Seit Monaten diskutiert ganz Südafrika über diesen Fall, es scheint kein anderes Thema mehr zu geben. Thandeka hat eine klare Meinung dazu: «Oscar ist unschuldig.» Ihre Freundin ist sich da nicht so sicher. Ein Polizist verscheucht die neugierigen Mädchen. «Ihr Schulschwänzerinnen habt hier nichts verloren. Ab in den Unterricht, aber sofort!»
Derweil beginnt im Gerichtssaal die Fortsetzung des Prozesses. Es ist der vierzigste Verhandlungstag, die Schlussplädoyers der Anklage und der Verteidigung stehen auf der Agenda, der Saal ist bis zum letzten Platz gefüllt. Nur in der vordersten Bankreihe sitzt einer ganz alleine: Oscar Pistorius, der Angeklagte. Er trägt einen dunklen Anzug und eine schwarze Krawatte, sein Blick versinkt in den Akten auf seinem Schoss. Nur manchmal schaut er kurz hinüber zu Gerrie Nel, dem Staatsanwalt, der als erster seine Argumente vorträgt.
Nel referiert akribisch den Tathergang in jener verhängnisvollen Nacht –so wie ihn die Anklage rekonstruiert hat. Wie Steenkamp um drei Uhr angezogen auf die Toilette ging. Wie Pistorius vier Schüsse durch die verriegelte Holztür abfeuerte. Und wie er sich anschliessend seine eigene Version des Geschehens «zusammengeschustert» habe.
Pistorius sei ein schwacher Zeuge in eigener Sache gewesen, bilanziert Nel, er habe sich in einem Netz von Widersprüchen verfangen; er schiebe stets die Verantwortung von sich weg, immer seien andere Schuld, sogar die Waffe sei von selber losgegangen.
«Es gab keinen Eindringling», erklärt der Staatsanwalt und bezichtigt Pistorius der Lüge. Gerrie Nel hat keinen Zweifel daran, dass der prominente Sportler seine Freundin nach einem Streit mit Absicht erschossen hat.
Der Beschuldigte schüttelt den Kopf und schaut zu seinen Verteidigern, die unmittelbar vor ihm sitzen. Der Blade Runner, der bei den Olympischen Sommerspielen in London 2012 so souverän auftrat, wirkt ziemlich hilflos. Hinter ihm sitzen wie erstarrt die Angehörigen, Vater, Onkel Arnold, die jüngere Schwester Aimee. Rechts daneben die Eltern des Opfers. Barry Steenkamp, der Vater, ist zum ersten Mal zum Prozess gekommen, er hatte im Januar einen Schlaganfall erlitten. Mutter June war an fast allen Verhandlungstagen anwesend.
«Ich hasse Oscar nicht», hatte sie in einem Gespräch mit einem englischen Klatschmagazin gesagt. «Ich habe ihm vergeben. Ich muss das wegen meiner Religion tun.» Ihr gramzerfurchtes Gesicht erzählt eine andere Geschichte.
Für Oscar Pistorius ist dieser Tag eine Tortur, er will stark und gefasst wirken, aber man sieht ihm an, wie er leidet. Immer wieder fährt er mit den Fingern über die Stirn, fasst sich an die Nasenwurzel, vergräbt sein Gesicht in den Händen. Die zerfetzte Toilettentür, die Tatwaffe, die Schüsse, der blutüberströmte Körper von Reeva – es muss ihm vorkommen wie ein Alptraum, der nicht enden will.
Dazu diese ruhige, gleichtönende Stimme des Staatsanwalts, der mit der Präzision eines Chirurgen seine Argumente darlegt, sechs Stunden lang. Am Ende schneidet sein Schlusssatz in die Stille des Saals: «Er kann der Verurteilung als Mörder nicht entkommen.»
Im Falle eines Schuldspruchs droht Oscar Pistorius eine lebenslange Haftstrafe. Es gibt zahlreiche Indizien, dass seine Version der Selbstverteidigung nicht der Wahrheit entspricht. Dennoch bleibt die Frage offen, was in der Tatnacht tatsächlich geschah. Der Staat muss die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei nachweisen.
Am Freitag wird Anwalt Barry Roux versuchen, die Ausführungen des Staatsanwalts zu erschüttern. Der Chefverteidiger von Oscar Pistorius gehört zu den besten seiner Zunft.