Es gibt Menschen, bei denen Scham ausagiert wird durch Sich-abwenden. Was beim Fernsehen schlecht ist, weil das vom Hingucken lebt. «Kaltstart» ist aber eine derart schlimme Folge, dass man als Zuschauerin irgendwann am liebsten woanders wäre: In ein gutes Buch vertieft, in eine Unterhaltung verwickelt, beim Essen, auf dem Klo oder vor der Tür beim Rauchen. Nur eben nicht Zeugin eines Falls (NDR-Redaktion: Donald Kraemer), mit dem das deutsche Fernsehen versucht, etwas von dreckigen Geschäften in einer globalisierten Ökonomie zu erzählen.
Dabei ist Greater Hamburg – für das Falke (Wotan Wilke Möhring) und Katharina Lorenz (Petra Schmidt-Schaller) zuständig sind, weil Til Schweigers Nicklas Tschiller nur einmal im Jahr aufläuft – im Ansatz nicht unsympathisch. Möhring hat ein Grundcharisma, das schon mal mehr hermacht als die Ausstrahlung der Kinder von Erfurt oder die von Ludwigshafens Mario Kopper. Und der Auftakt von «Kaltstart» deutet Interesse an einer gewissen Grösse an: Eine so aufwendige Szene mit Polizei-Grosseinsatz auf mächtigem Hafengelände gönnt sich nicht jeder «Tatort».
Leider entpuppt sich die Nummer rasch als plumpe Effekthascherei. Man würde gern, kann aber nicht. Was ziemlich viel damit zu tun hat, dass das Drehbuch (Volker Krappen, Raimund Maessen) oder was davon dann verfilmt worden ist, gerade erst in den Kindergarten gekommen ist – es hätte noch Jahre der Reifung vor sich. «Kaltstart» ist so ein Fall, in dem die – schon 100 Mal angedacht, noch immer nicht produziert – Original-Sonntagabendkrimi-Bullshit-Bingo-Bögen die 90 Minuten vor der Knipse kurzweiliger gestalten hätten können.
Von «Immer diese Alleingänge» über «Machst dir schon Feinde» und «Da muss mehr dahinter stecken» bis «Sie haben versagt» und «Es geht ums Geld» ist alles dabei. Wenn jemand wie Falke-Buddy Katz (Sebastian Schipper) sagt, man habe «Halotan» gefunden, informiert Falke-Kollegin Lorenz per Rückfrage: «Halotan ist doch ein Narkotikum?»
Dass die Bösewichter der Rüstungsindustrie – oder in welcher Branche auch immer man diese ominöse Zentrale lokalisieren soll, in der der «Tatort» gottähnlich wie ein Videospiel verfolgt wird – in ihren wenigen Auftritten eigentlich immer nur «Scheisse» sagen («So eine», «reingeritten», «rauskommen» usw.), kann man für konsequentes Corporate Gerede halten.
Es hätte einem der Beteiligten aber auch auffallen können, wie einfallslos das ist. Diese Person gab es offensichtlich nicht, denn nicht aufgefallen ist auch, dass Falke nach dem Kawumms am Anfang zu «Eberhard» ins Krankenhaus fährt, dort aber «Stefan» anspricht – die Rolle von Ronald Nitschke ist im Presseheft und bei crew-united uncreditiert. Solche Fehler passieren den Grössten, im Fall von«Kaltstart» aber laufend. Wenn Falke am Hafen dem ablegenden Containerschiff hinterherschaut und einen rumstehenden Polizisten mit «Haltet den doch auf, Mann» anflucht, sagt der Polizist: «War nichts zu machen.» Und das ist eben kein Satz, den man sagt, sondern die Botschaft, die rüberkommen soll.
Gute Dialoge werden nicht von der Botschaft her gedacht. Man muss diesen «Tatort» nicht mal als Grossesganzes gegen das Licht halten, um zu erkennen, was für ein Fake das ist (Wer ermordet hier wen und warum?). Schon die Kleinigkeiten sind ridiculous.
Wie will denn Lorenzen die Narbe im Gesicht des Laptop-Diebes gesehen haben, wenn sie nicht einmal das Nummernschild erkennen konnte – war der Herr so nett, fürs Zerschlagen des Autofensters extra den Helm abzunehmen und sich dann auch noch zu ihr umzudrehen? Und wie ist er dann entkommen mit dem Helm in der Hand auf dem Motorrad?
Ein Satz wie Katzens Fazit angesichts des jesushaft in seiner Tennisplatzlagerhalle drapierten Dreyer (jüngst erst in Kiel am Start: Andreas Patton) widerspricht sich passenderweise selbst: «Jetzt warten wir erst mal die kriminaltechnische Untersuchung ab, aber ich denke, wir haben unseren Mörder.» Und wenn Lorenzen die schreckliche Nebengeschichte mit dem Flüchtlingsjungen glücklich abheftet («Wenigstens kann der kleine Junge hierbleiben»), dann kann man sehen, wie so ein «Tatort» sich vor dem Senderkalkül rechtfertigt. Der kleine Junge hat doch mit der Ermittlung nichts zu tun: Das «Wenigstens» ist also nur gegen Bedenken gerichtet, der «Tatort» könne zu pessimistisch oder was auch immer daherkommen.
«Kaltstart» besteht aus drei leicht auseinanderzunehmenden Bauteilen: Dem Pseudo-Thriller mit den Waffengöttern, der Flüchtlingsschnulze von Lorenzen und dem Tote-Loverinnen-Blues von Falke. Letzterer sorgt – immerhin, angesichts der Standardmucke, für die gleich zwei Leute verantwortlich zeichnen müssen (Stefan Will, Marco Dreckkötter) – für das Anspielen des Apparat feat. Soap&Skin-Songs «Goodbye». Ansonsten muss man den zusammengelöteten Schaltkreis der drei Gefühle (der Schnitt, auch hilflos: Lars Jordan) schon demagogisch nennen, auch wenn das keiner wissen will von denen, die sich Montag früh über die Quoten freuen: Wie man permanent politische Brisanz mit billiger «Emotionalität» kontert, wird hier präzise vorgeführt.
Als Falke vom Tod der lovely Rita erfährt, kriegt das Bild gleich Zeitlupe, weil es so betroffen ist. Nach der Nummer mit dem Rechner (unglaublich, wie die fiesesten Superbösen glücklicherweise immer die allerdämlichsten Fehler machen, zumal sie eigentlich schon entkommen sind), wo doch eigentlich an einem krassen Beweisstück rumermittelt werden müsste, fährt Falke erstmal an irgendein Wasser, um mit Katz den Tagesordnungspunkt «Privates» zu diskutieren (darin: junge Väter, bindungsunwillige Männer).
Und von der Waffenindustrieverschwörungsfabel wollen wir schweigen. Man kann sich als totalaufgeklärte deutsche Medien natürlich über den Dönekes ereifern, mit dem so ein, sagen wir, Wladimir Putin Politik macht. Aber dann könnte doch auch jemand von den Verantwortlichen bemerken, was das Erste Deutsche Fernsehen in seiner Aushängeschild-Quality-Sonntagabendkrimireihe den Leuten vom Pferd erzählt, wo es Kapitalismus und Gegenwart zu buchstabieren versucht.
«Kaltstart» ist ein Beispiel für die Pilcherisierung des «Tatort»: Schöne Menschen vor schönen Landschaft, egal, was sie tun. Kann man alles machen, die Quoten sagen doch, «dass die Leute das sehen wollen». Aber Film möchte man das bitte nicht nennen. In manchen Teilen wirkt alles schon wie die eigene Parodie: das ewige Digger-Gehamburge von Falke (den der Film in seinem breitbasigen Gang nicht gut aussehen lässt), die vorgestanzten Sätze, und nicht zuletzt, da wird es eigentlich am lustigsten, dass Stefan/Eberhard mit seinem Augenverband aussieht wie Bart Simpson nach der Verwandlung in eine Fliege.
Dass Regisseur Marvin Kren, der bislang als Genre-Regisseur hervorgetreten ist («Lammbock», «Blutgletscher»), dieser Tage gleich seinen zweiten, nächsten Falke-«Tatort» dreht, wird seine Gründe haben. Ausgeschlossen ist aber: Weil «Kaltstart» für künstlerisch so hochstehend befunden wurde.
Eine Erkenntnis, die besser mal bei der Drehbuchbesprechung gekommen wäre: «Die Geschichte glaubt uns kein Mensch»
Ein Satz, den Dunkelrestaurantbetreiber nicht auf sich sitzen lassen würden: «Wenn man kaum was sehen kann, dann schmeckt irgendwie alles scheisse.»
Etwas für den Grabstein: «Ich war mal Semi-Profi»