Rückblende: Wir schreiben den 18. Mai 1996. Im Leverkusener Ulrich-Haberland-Stadion steigt der Abstiegskrimi zwischen Bayer Leverkusen und dem 1.FC Kaiserslautern. Die Pfälzer brauchen unbedingt einen Sieg, um den ersten Abstieg aus der Bundesliga noch zu verhindern. Lange sieht es gut aus, doch dann schiesst Markus Münch in der 82. Minute den 1:1-Ausgleich und Kaiserslautern damit ins Tal der Tränen. Wortwörtlich.
Die Fussballer, deren Frauen, Ehemalige auf der Tribüne und natürlich die Fans – keiner kann die Emotionen zurückhalten, überall wird hemmungslos geweint. Doch vor allem ein Bild bleibt ein für alle Mal in Erinnerung: Leverkusen-Stürmer Rudi Völler und Lautern-Captain Andreas Brehme, die beiden Weltmeister von 1990, müssen zusammen zum TV-Interview antraben. Doch bei Brehme geht gar nichts mehr: Schluchzend lehnt er an Völlers Schulter, der seinen Kumpel vergeblich zu trösten versucht.
Kurios: Eine Woche nach dem Abstieg gewinnt Lautern den zweiten DFB-Pokal der Vereinsgeschichte. Spätestens da schwören sich die Stammspieler, dass keiner den Klub so mir nichts dir nichts verlassen wird. So bleibt das ziemlich zerstrittene Team zusammen und schafft damit die Grundvoraussetzung für eines der grössten Fussballwunder in der Bundesliga.
Nicht einmal zwei Jahre nach dem schwarzen Tag in Leverkusen: Samstagnachmittag, 17.15 Uhr. Auf dem Betzenberg läuft die 88. Minute. Kaiserslautern, das mit dem neuen Trainer Otto Rehhagel den sofortigen Wiederaufstieg ins Oberhaus schaffte, hat gegen den VfL Wolfsburg am vorletzten Spieltag alles im Griff. Dank einem Doppelpack von Olaf Marschall und Martin Wagner führen die «Roten Teufel» bereits mit 3:0, als Jürgen Rische noch das 4:0 gelingt. Der «Betze» bebt, aber dennoch lässt die Anspannung nicht nach.
Denn längst schaut alles nach Duisburg. Nur wenn es dort zwischen dem MSV und Bayern München beim 0:0 bleibt, dürfen die Lauterer endgültig jubeln und als erster Aufsteiger überhaupt den Meistertitel feiern. Wenig später ist es so weit: Im Wedaustadion fällt kein Tor mehr und auf dem Betzenberg gibt es kein Halten mehr.
Auf dem Feld fallen sich die Spieler in die Arme und die Fans stürmen den Rasen des Fritz-Walter-Stadions. Wieder fliessen überall die Tränen, doch diesmal sind es Freudentränen. Ganz Kaiserslautern feiert den vierten Meistertitel der Vereinsgeschichte, zur ad hoc organisierten inoffiziellen Meisterfeier erscheinen am Samstagabend weit über 30'000 Personen.
Die Schale gibt's allerdings erst eine Woche später in Hamburg. Nach dem 1:1 gegen den HSV stemmt Ciriaco Sforza als erster die «Salatschüssel» in die Höhe. Eigentlich will der Schweizer Nati-Spieler diese Ehre Andreas Brehme überlassen. Für das Lauterer Urgestein war es das 301. und letzte Bundesliga-Spiel, doch Brehme winkt ab. «Er hat es verdient, die Schale als erster hochzuhalten. Er hat den Verein hierhin geführt», sagt er nur.
Der Meistertitel der «Roten Teufel» ist mehr als verdient. An 32 von 34 Spieltagen steht der 1. FCK an der Tabellenspitze, ab dem 4. Spieltag ununterbrochen. Den Grundstein für das «Wunder vom Betzenberg» legt die Rehhagel-Truppe gleich am ersten Spieltag. 1:0 ringt der Aufsteiger den grossen Titelfavoriten Bayern München im Olympiastadion nieder. «Da haben wir gemerkt, dass wir mit allen mithalten können», sagt Torschütze Michael Schjönberg später. «Auch wenn es blöd klingt, durch die vielen Siege in der 2. Liga hatten wir uns ans Gewinnen gewöhnt und haben einfach weitergemacht.»
Rehhagel übernimmt nach dem Abstieg 1996 die zerstrittene Mannschaft, hat aber zunächst Mühe, sie in der 2. Liga auf Kurs zu bringen. Doch der zweifache Meistertrainer mit Werder Bremen schafft es, aus dem zerstrittenen Haufen eine Einheit, eine Mannschaft mit einem extrem starken Wir-Gefühl zu formen. Und eigentlich haben die meisten Lauterer in der Meistersaison ihren Zenit schon überschritten.
Andreas Brehme hängt nach dem Aufstieg noch ein letztes Jahr an, Abwehrchef Miroslav Kadlec ist auch schon 34. Olaf Marschall ist eher für sein Nasenpflaster als für seinen Torriecher bekannt und die Dribbelkünste von Ratinho sind zwar schön anzuschauen, aber zu selten auch effektiv. Nur an Stürmer Pavel Kuka gibt's nichts zu rütteln.
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Doch Rehhagel, der in Kaiserslautern wie einst in Bremen, aber anders als bei Bayern München, die Zügel endlich wieder alleine in der Hand halten darf, kitzelt aus seinen Problemkindern alles heraus. Dazu glücken ihm ein paar tolle Transfers. Nach dem Aufstieg kommen der junge, talentierte Michael Ballack vom Chemnitzer FC, Sturmtank Marian Hristov von Lewski Sofia sowie der blitzschnelle Flügel Andreas Buck vom VfB Stuttgart. Der Königstransfer ist aber ganz klar Ciriaco Sforza.
Der Schweizer Nati-Spieler spielte schon von 1993 bis 1995 für die Lauterer, versuchte sich dann aber vergeblich bei Bayern München und Inter Mailand. Doch an alter Wirkungsstätte zeigt Sforza wieder seine ganze Klasse: Mit seinem Spielverständnis verleiht er der Offensive die zusätzliche Raffinesse, ohne die eine Meistermannschaft nicht auskommt. Und in der Defensive beruhigt er mit Übersicht und Technik die Kollegen um Wuschelkopf Harry Koch, denen der Ball im Gegensatz zu ihm eben nicht blind gehorcht.
Alles passte in dieser Saison zusammen, nur so war das «Wunder vom Betzenberg» möglich. Und danach fliegt Ikarus mal wieder zu nah an die Sonne: Wer geglaubt hat, dass die Meistersaison die Wiedergeburt des grossen 1. FC Kaiserslautern ist, wird jäh enttäuscht.
Der Startschuss zurück in die Krise kommt ausgerechnet von Meistertrainer Rehhagel. Am 6. Spieltag der Saison 1998/99 unterläuft dem Routinier ein fataler Wechselfehler. Beim Spielstand von 1:0 gegen den VfL Bochum bricht sich Schjönberg das Schienbein und muss ausgewechselt werden. Rehhagel schickt Pascal Ojigwe aufs Feld. Mit Hany Ramzy, Samir Ibrahim und Ratinho tragen bereits drei andere Nicht-Europäer das Trikot der Roten Teufel. Jetzt, mit Ojigwe, einer zu viel.
Rehhagel rauft sich die Haare und ruft den Ägypter Ramzy an der Aussenlinie zu sich. Dieser fängt plötzlich an zu humpeln und wird drei Minuten später durch Harry Koch ersetzt. In der Gewissheit, das Spiel ohnehin verloren zu haben, geben die Lauterer den Vorsprung noch aus der Hand und verlieren am Ende mit 2:3.
Von da an ist der Wurm drin, langsam aber stetig geht es bergab. Die Nachfolger des zurückgetretenen Brehme und der heimgekehrten Tschechen Kadlec und Kuka erweisen sich als nicht ebenbürtig, ausserdem muss sich Spielmacher Sforza am Schienbein operieren lassen. Rehhagel hält sich zwar noch bis 2000 beim 1. FCK, dann legt er sein Amt nieder. Um als Nationaltrainer Griechenlands («Rehakles») mit dem Gewinn des EM-Titels 2004 erneut für eine gewaltige Sensation zu sorgen.
2006 steigen die «Roten Teufel» zum zweiten Mal ab. Zwar gelingt 2010 der Wiederaufstieg, doch ein zweites «Wunder vom Betzenberg» gibt es nicht. Kaiserslautern schlägt sich tapfer, muss sich aber mit Rang 7 begnügen. Und schon in der nächsten Saison kehrt die Ernüchterung ein: Lautern steigt 2012 zum dritten Mal ab. Und anstatt das 20-Jahr-Jubiläum der letzten Meisterschaft anständig feiern zu können, geht es im Frühsommer 2018 erstmals überhaupt in die 3. Liga runter.