Die meisten Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten haben die Geburt des Euro alles andere als freudig begrüsst. Zu unterschiedlich seien die Volkswirtschaften, als dass sie in das Korsett einer Einheitswährung gezwängt werden könnten, monierten die Kritiker – ja, ich auch. Lange schienen sie recht zu bekommen. Die im Vertrag von Maastricht festgelegten Schuldenobergrenzen waren Papiertiger und wurden selbst von den beiden Europa-Leithammeln Deutschland und Frankreich nicht eingehalten. Die nach deutschem Vorbild harte Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) stürzte bald die Länder rund ums Mittelmeer in eine Dauerkrise.
Mit dem Fall von Griechenland spitzte sich die Krise des Euro dramatisch zu. Zu einem Grexit kam es letztlich nur deswegen nicht, weil niemand eine Antwort auf die Frage hatte, wie man die Einheitswährung wieder verlassen könnte. Es sei, wie wenn man aus einer Omelette wieder ein Ei machen wolle, klagten die Fachleute. Stattdessen plädierten vor allem deutsche Ökonomen für eine Zweiklassen-Euro-Gesellschaft, für einen Club der tugendhaften Nordländer und der weniger tugendhaften Länder des Südens.
Weder der Grexit noch die Zweiklassen-Gesellschaft wurden je Tatsache. Stattdessen wächst und gedeiht die Euro-Gemeinde. Mit Kroatien ist soeben das 20. Mitglied dem Club beigetreten. Damit leben rund 340 Millionen Menschen mit der Einheitswährung, und es könnten bald noch mehr sein. Schweden, Bulgaren, Tschechen und Polen liebäugeln ebenfalls mit einem Beitritt. Die Frage drängt sich daher auf: Was macht den so viel geschmähten Euro plötzlich so sexy?
Zunächst ist seine erstaunliche Widerstandsfähigkeit zu erwähnen. So stellt Paschal Donohoe, der Finanzminister von Irland, im «Economist» fest: «In des 20 Jahren der Existenz des Euro hatten wir es mit der Finanz- und der Schuldenkrise zu tun, auch mit dem Brexit und der Pandemie. Aus jeder dieser Krisen ist der Euro gestärkt hervorgegangen. Präsident Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine und sein Energie-Krieg gegen den Westen wird eine weitere Krise sein, aus der die Eurozone gestärkt hervorgehen wird.» Donohoe präsidiert derzeit die Eurozone, die Gruppe der Finanzminister der Eurozone.
Die Fakten stützen diese Aussage. Allen Befürchtungen zum Trotz schlägt sich die europäische Wirtschaft derzeit besser als befürchtet. Trotz Inflation und explodierenden Energiepreisen ist der prophezeite Absturz bisher ausgeblieben. Es gibt weder Massenarbeitslosigkeit noch eine schwere Rezession in Euroland. Selbst im schwierigen Jahr 2022 dürfte die Wirtschaft um 3,2 Prozentpunkte des Bruttoinlandprodukts gewachsen sein.
Das hat sich auch auf den Finanzmärkten herumgesprochen. Derzeit ist an europäischen Aktienmärkten mehr Geld zu verdienen als an den US-amerikanischen. «Die meist als Nachzügler der globalen Finanzmärkte geltenden Indices der europäischen Aktienmärkte haben mehr geliefert als erwartet», meldet das «Wall Street Journal». «Der deutsche DAX und der französische CAC sind in den letzten drei Monaten 18 Prozent und mehr angestiegen, mehr als doppelt so viel wie der (amerikanische) S&P.»
Wie alle anderen auch leiden die Euroländer unter Inflation und gestiegenen Energiepreisen. Anders als die anderen müssen sie sich jedoch nicht auch noch mit exorbitanten Leitzinsen der Zentralbanken herumplagen. Wer in Polen oder Tschechien einen Kredit aufnehmen will, muss derzeit bis zu dreimal höhere Zinsen bezahlen als in Euroland. In Ungarn hat die Zentralbank den Leitzins gar auf 13 Prozent erhöht.
Indirekt profitiert der Euro auch vom Schicksal des britischen Pfunds. Inzwischen lässt sich nicht mehr leugnen, dass der Brexit zumindest ökonomisch gesehen ein katastrophaler Fehler war. Das Pfund und die britische Wirtschaft sind abgestürzt; und obwohl das Vereinigte Königreich nie zu Euroland gehört hat, bleibt die Botschaft: Alleingänge sind für Losers, denn in einer Welt, in der sich die USA und China um die Weltmacht streiten, wird Grösse wichtig: «Nur die geldpolitische Geschlossenheit der Euro-Volkswirtschaften erlauben der EZB eine gewisse Unabhängigkeit von der US-Notenbank», stellt Martin Sandbu in der «Financial Times» fest.
Das scheint sich selbst bei den Rechtspopulisten herumgesprochen zu haben. Georgia Meloni, Italiens neue Premierministerin, spricht nicht mehr von einem allfälligen Austritt aus der Einheitswährung. In Frankreich macht Marine Le Pen keine Euro-kritischen Äusserungen mehr, während in Deutschland die AfD, die einst als Partei zur Wiedereinführung der D-Mark gegründet wurde, sich nun auf Fremdenhass und Putin-Verstehertum konzentriert.
So schnell dürfte der aktuelle Höhenflug des Euro nicht zu Ende sein. «Den wirtschaftlichen Test hat er bestanden», stellt Paschal Donohoe fest. «Der Euro hat sich mitten in den aktuellen Krisen als Demonstration europäischer Stärke und Geschlossenheit gezeigt.»