Wer derzeit von Profis einen Anlage-Tipp will, erhält mit grösster Wahrscheinlichkeit die Antwort: Kauf europäische Aktien. Europäische Aktien? Richtig gehört. «Besonders gut sieht es für die Aktien in der Euro-Zone aus», schwärmt die Bank Pictet in ihrem Ausblick fürs nächste Jahr. Und was ist mit Euro-Krise, Griechenland, Austeritätspolitik und den «kranken Männern» Frankreich und Italien? Alles vergessen oder was?
Nein, aber das war gestern. Die aktuelle Situation in Europa fasst Philip Stephens in der «Financial Times» wie folgt zusammen: «Die Arbeitslosigkeit fällt und die Investitionen steigen. Griechenland ist keine Gefahr mehr für den Kollaps der Eurozone. Die Zuwanderungskrise mindert sich. Und es besteht starke Hoffnung, dass Paris und Berlin die französisch-deutsche Freundschaft wieder neu aufleben lassen. Kurz: Europa fühlt sich nicht mehr an wie ein Kontinent, der am Boden liegt.»
Die aktuellen Zahlen sind so gut, dass man zunächst seinen Augen nicht trauen mag: Das Wirtschaftswachstum auf dem angeblich so maroden alten Kontinent übertrifft derzeit gar das amerikanische, die Arbeitslosigkeit ist auf dem tiefsten Stand seit 2009. Dafür befinden sich Konsumenten- und Einkaufsindices der Unternehmen auf Höchstständen.
Alles paletti somit? Nicht ganz. Es gibt einen Verlierer, und der heisst Grossbritannien. Es wird immer deutlicher, dass der Brexit zumindest wirtschaftlich keine gute Idee war. Thomas Sampson hat zusammen mit seinen Kollegen von der London School of Economics ein Zwischenfazit erstellt. Es ist ernüchternd ausgefallen. «Der Brexit hat den durchschnittlichen Angestellten rund einen Wochenlohn gekostet», stellt er in der «Financial Times» fest. Schuld daran sind verpasstes Wachstum und steigende Inflation.
Zu einem ähnlichen Befund kommt Jonathan Portes, Ökonomieprofessor am King’s College in London. «Der Brexit hat das Vereinigte Königreich einen Wachstumsverlust von rund einem Prozent des Bruttoinlandsprodukt gekostet», stellt er ebenfalls in der «Financial Times» fest.
Auf der britischen Insel macht sich denn auch so etwas wie Reue breit. Eine Mehrheit würde heute gegen den Brexit stimmen, sagen jüngste Meinungsumfragen. Im Parlament versuchen derweil gemässigte konservative Stimmen, das Schlimmste zu verhindern und wenigstens einen «weichen» Brexit zu ermöglichen.
Mit Stimmen aus ihrer eigenen Partei wurde Premierministerin Theresa May gezwungen, das Parlament letztlich über den Ausstiegsvertrag entscheiden zu lassen. Um einen weichen Brexit zu erzwingen, sind, wie der «Guardian» meldet, junge Konservative gar bereit, mit Vertretern der Labour Partei zusammenzuarbeiten.
In Europa hofft man derweil auf das Duo Macron/Merkel. Dem jungen Präsidenten ist es in kurzer Zeit gelungen, den französischen Arbeitsmarkt zu reformieren und damit die Voraussetzungen für seine hochfliegenden Europa-Pläne zu schaffen. Macron plädiert für ein gemeinsames Budget der Eurozone, einen Eurozone-Finanzminister und ein Eurozone-Parlament.
Die deutsche Bundeskanzlerin will den europäischen Stabilitätsmechanismus in eine Art IWF für den alten Kontinent ausbauen. SPD-Chef Martin Schulz spricht gar von «Vereinigten Staaten von Europa», ein Ziel, das er schon 2025 erreichen möchte. Bevor man dies als reines Hirngespinst abtut, bedenke man: Das Weiterführen einer grossen Koalition ist derzeit die Option mit den grössten Chancen in Deutschland. Obwohl sie die Wahlen verloren hat, hat die SPD nach dem Scheitern der «Jamaika-Koalition» eher mehr Macht als zuvor.
Kommt dazu, dass Angela Merkel ihre letzte Amtsperiode absolviert und der Welt ein Vermächtnis hinterlassen will. Gut möglich, dass sie ihren vorsichtigen Pragmatismus zugunsten eines gestärkten Europas über Bord werfen wird. Im Frühling 2017 hat Macron mit seinem spektakulären Wahlsieg Europa aus seiner Dauer-Depression gerüttelt. Wird er es nun zusammen mit Merkel zu neuer Grösse führen?