Zalando ist der Kleiderschrank Europas. Das 2008 gegründete Online-Modehaus hat bis heute ein atemberaubendes Wachstum hingelegt. Es bietet über 150'000 Produkte im Bereich Wohnaccessoires, Sportausrüstung, Schuhe, Kleidung für Frauen, Männer und Kinder an und bedient nicht weniger als 15 europäische Länder. Die schreienden Frauen aus der Zalando-Werbung, die ihr Glück bei der Paketlieferung kaum fassen können, haben sich bei den Konsumenten in den Gehörgängen eingenistet.
Mit monatlich über 100 Millionen Seitenaufrufen ist das deutsche Unternehmen mit Sitz in Berlin die am häufigsten angeklickte Mode-Website der Welt. Allein in der Schweiz zählt die Firma laut Dominik Rief, Länderchef Schweiz und Österreich, mehr als eine Million Kunden. Zalando ist die Erfolgsgeschichte im Onlinehandel.
Aber wie kann ein Unternehmen, das keinen Gewinn erwirtschaftet, so erfolgreich sein? watson erklärt das Zalando-Prinzip.
In Erfurt, neben Mönchengladbach und Brieselang, im grössten Logistikzentrum des deutschen Start-ups, arbeiten über 2000 Mitarbeiter auf 120'000 Quadratmetern – ein Areal so gross wie 18 Fussballfelder. Die Ware, die Schweizer Zalando-Kunden bestellen, wird nicht, wie in einem hochmodernen Logistikunternehmen üblich, per Roboter oder maschinell aus den Gestellen gehievt und weiterverarbeitet, stattdessen kommen Menschen zum Einsatz. Denn die Zalando-Picker sind billiger.
An normalen Arbeitstagen legt jeder einzelne Mitarbeiter zu Fuss zwischen 15 und 20 Kilometer zurück, um die eingegangenen Bestellungen einzusammeln. Die Ware wird gescannt, zu einem Checkpoint gebracht, wo sie später in den orange-weissen Kartons landet – zum Versand in die Schweiz bereit. Handarbeit im Akkord für 8 Euro und 79 Cents die Stunde (10,70 Franken).
Die Arbeit, also Schnelligkeit und Effizienz der Angestellten, wird von einer Software überwacht. Entspricht das Ergebnis nicht den Zielvorgaben, werden die Mitarbeiter verwarnt. Kritiker sprechen bereits von moderner Sklavenarbeit ohne Tarifvertrag. Dem hält Zalando-Sprecherin Kristin Dolgner im Gespräch mit watson entgegen: «Der Lohn von 8,79 Euro pro Stunde gilt als Grundgehalt für Mitarbeiter im gewerblichen Teil der Logistik ohne weitere Zusatzqualifikationen. Damit liegen wir über dem geplanten Mindestlohn von 8,50 Euro.»
Unabhängig von der aktuellen Diskussion gebe es für die Mitarbeiter in der Logistik regelmässig Gehaltserhöhungen. «Seit 2012 wurde das Grundgehalt in der Logistik von Zalando um 16 Prozent erhöht», sagt Dolgner. Die aktuelle Erhöhung auf 9,04 Euro pro Stunde werde im Juni wirksam und folge damit der ebenfalls ab Juni geltenden Anpassung im Logistiktarifvertrag für Thüringen.
Nachdem bereits das ZDF und Der Spiegel über zweifelhafte Zustände in den Warenlagern des Online-Modehauses berichtet hatten, legte kürzlich der deutsche Privatsender RTL zusammen mit Enthüllungsjournalist Günter Wallraff nach . Im Zentrum der vielbeachteten Reportage stehen die fragwürdigen Arbeitsbedingungen der Lagermitarbeiter. Zalando reagierte. In einer Stellungnahme hält das Unternehmen fest:
Ein Blick in die Regale hiesiger Poststellen genügt, und der Fall ist klar. Die orange-weissen Pakete von Zalando dominieren. Branchenkenner gehen davon aus, dass in der Schweiz pro Monat 200’000 Zalando-Pakete befördert werden. Pro Arbeitstag sind das 10’000 Pakete. Offizielle Angaben dazu macht weder die Post noch Zalando.
Das Aufkommen der orange-weissen Pakte freut die Post: Denn der gelbe Riese vertreibt hierzulande exklusiv die Pakete des Online-Modehauses. Sogar das Team von Postlogistics wurde alleine in den letzten drei Jahren um 200 Vollzeitstellen aufgestockt. Weil sich die Post nicht zu einzelnen Kunden äussert, ist anzunehmen, dass nicht nur Zalando für die Aufstockung des Personals verantwortlich ist. Der gesamte E-Commerce-Markt wächst rasant. Amazon & Co. sei dank.
Für viele Kunden ist die kostenlose Retoure, die Zalando anbietet, der Hauptgrund, weshalb sie sich beim Online-Einkauf für das Berliner Unternehmen entscheiden. Bis zu 80 Prozent soll die Rücksendequote betragen. Zalando selbst spricht von bis zu 50 Prozent. Die Pakete landen beim Schweizer Logistikpartner Fliege in Bülach. Dort wird jedes einzelne Kleidungsstück von Hand kontrolliert, gereinigt, geflickt – oder entsorgt.
Der Erfolg des Berliner Unternehmens ist nicht nur der hohen Marktdurchdringung geschuldet, das Prinzip basiert auf billigen Arbeitskräften und tiefen Investitionen in die Infrastruktur. Das Online-Modehaus baut die Lagerhallen nicht selbst, sondern mietet sie bloss. Damit bleibt die Firma hoch mobil, kann jederzeit ohne grosse finanzielle Verluste Standorte schliessen.
Der «Thüringer Allgemeinen» sagte Zalando-Geschäftsführer Rubin Ritter: «Wir setzen auf eine hohe manuelle Abwicklung der Online-Verkäufe, die Artikel werden von den Angestellten von Hand aus den Lagern entnommen und wieder zurückgebracht.» Mit grossen Maschinenparks sei keine Flexibilität zu erreichen.
Dass sich Zalando für den Standort Erfurt entschied, kommt nicht von ungefähr. Das Online-Modehaus erhielt von der Landesregierung einen Zuschuss von 22,5 Millionen Euro. Pro Mitarbeiter (2000) sind das 11'250 Euro. Für diesen Betrag müsste ein Zalando-Angestellter fast 1280 Stunden schuften.
«Diese Fördergelder helfen uns als Unternehmen, langfristige Arbeitsplätze zu schaffen und in den Aufbau des Standortes zu investieren», sagt Zalando-Sprecherin Dolgner. Die Subventionen seien immer auch in Relation zum Gesamtvolumen der Investitionen zu sehen. Bisher habe Zalando mit der Förderung des Freistaats Thüringen über 2000 Vollzeitarbeitsplätze geschaffen, so Dolgner.
Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sieht eine solche Wirtschaftsförderung aber kritisch. Er fürchtet, dass sich auf diese Weise ein Niedriglohnniveau in der Region verfestigt. Im Gespräch mit dem «Mitteldeutschen Rundfunk» (MDR) sagte er 2013:
«In strukturschwachen Gebieten wird Investoren der rote Teppich ausgerollt, man wirbt mit billigen Löhnen und man wirbt mit Subventionen. Ich sehe das schon sehr kritisch. Ich finde, dadurch wird das niedrige Lohnniveau zementiert, indem man selbst auf Seiten der Politik ein Gebiet als Niedriglohngebiet nach aussen hin anpreist.»
Andere Kommunen dagegen lehnen es ab, Unternehmen wie Zalando mit öffentlichen Mitteln zu unterstützen. Auch im bayrischen Leipheim wollte sich der Konzern im Sommer 2013 auf einer ehemaligen US-Militärbasis ansiedeln. Doch der Leipheimer CSU-Bürgermeister Christian Konrad sprach sich dagegen aus und erklärt im Gespräch mit dem MDR:
«Und wenn ich dann höre: Wir haben 1600 Angestellte – also mehr als drei Viertel aller Beschäftigten – im Niedriglohnbereich. Und wenn ich dann höre: Wir sollen keine Gewerbesteuer bekommen, aber auf der anderen Seite Infrastruktur schaffen, Strassen, einen Kanal, Unterhaltsmassnahmen. Da fragt man sich als Bürgermeister schon, was habe ich von der Ansiedlung einer solchen Firma?»
Derweil schlagen die Gewerkschaften Alarm: Gefördert würden statt gut bezahlter Arbeit in Wirklichkeit Billigjobs mit teilweise harten Arbeitsbedingungen, kritisieren sie. «Wir sind dabei, die Kollegen bei Zalando zu organisieren», sagte der bei der deutschen Gewerkschaft Verdi für Versand- und Onlinehandel zuständige Stefan Najda nach den jüngsten Enthüllungen über die Arbeitsbedingungen in Erfurt.
Wie paradox die Geschäftsstrategie des Berliner Unternehmens ist, zeigt ein Blick in die Bilanz. Noch geht der Online-Modehändler Zalando offenbar nicht davon aus, in nächster Zeit nennenswerten Gewinn zu erwirtschaften. Das Unternehmen versucht mit einer ähnlichen Strategie wie Amazon gross zu werden und kann dabei mit einem kleinen Trick seine Steuerzahlungen reduzieren.
Aus der Bilanz des Geschäftsjahres 2012, die im April veröffentlicht wurde, geht hervor, dass das Unternehmen wohl über die nächsten Jahre hinweg keinen substanziellen Gewinn erwirtschaften wird – und dies auch nicht vorhat. Dies ist das Fazit von Experten, die die Zahlen für das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» unter die Lupe genommen haben. Denn falls ein Unternehmen wie Zalando Verlust macht, muss es keine reguläre Gewerbe- und Körperschaftsteuer zahlen. Dafür wird in der Bilanz ein sogenannter Verlustvortrag geführt, der mit Gewinnen in späteren Jahren verrechnet werden kann – wenn diese denn überhaupt eintreten.
Das Online-Modehaus setzt indessen auf Grössenwachstum: So sind die Berliner in 15 Ländern aktiv. Allein in den letzten zwei Jahren kamen unter anderem alle skandinavischen Staaten, Spanien, Polen, Belgien und Luxemburg hinzu. Zalando führt heute 13 Millionen Kunden in seiner Datenbank. Das Unternehmen verfügt nach eigenen Angaben mit mehr als 350 Millionen Euro über eine «komfortable» Netto-Liquidität, um auch zukünftiges Wachstum zu finanzieren.
Ohnehin ist das Wachstum des Online-Modehändlers atemberaubend: Erzielte die Firma 2010 noch einen Umsatz von 150 Millionen Euro, waren es 2012 bereits 1,16 Milliarden Euro. Im Februar gab das Unternehmen bekannt, dass der Umsatz im Jahr 2013 um mehr als 50 Prozent auf 1,8 Milliarden Euro angestiegen ist. Umsatzzahlen gesondert für die Schweiz macht Zalando nicht publik. Gemäss Schätzungen der E-Commerce-Beratungsfirma Carpathia soll sich dieser auf über 250 Millionen Franken belaufen. Verglichen mit dem Vorjahr sei das ein Plus von 60 Prozent.
Aber wer braucht schon Gewinn, wenn der Börsengang kurz bevorsteht? Noch in diesem Jahr will der Onlinehändler Aktien ausgeben. Ein genauer Termin steht aber noch nicht fest. «Abhängig vom Börsenumfeld» solle der Börsengang im Herbst 2014 stattfinden, teilte Zalando mit. «Geplant ist die Ausgabe von neuen Aktien aus einer Kapitalerhöhung», hiess es. Die bestehenden Zalando-Eigner behielten ihre Anteile. Nach dem Börsengang sollen zehn bis elf Prozent des Zalando-Kapitals an der Börse platziert sein.
Wie Reuters von einer mit der Transaktion vertrauten Person erfuhr, strebt Zalando damit ein Emissionsvolumen von mehr als 500 Millionen Euro an. Zalando würde dabei mit insgesamt über 6 Milliarden Euro bewertet. Der Ausgabepreis solle in der Woche ab dem 29. September bekanntgegeben werden, sagte der Insider.
Die Pläne der Firma sorgen auch deshalb für Aufsehen, weil es der grösste Börsengang eines Online-Unternehmens in Deutschland seit dem Platzen der Internetblase nach der Jahrtausendwende werden könnte. «Der Gang an die Börse ist der nächste logische Schritt in der Entwicklung von Zalando, da er uns die nötige Flexibilität gibt, um unsere langfristigen Wachstumsambitionen weiterzuverfolgen», begründete Zalando-Vorstand Rubin Ritter die Bekanntgabe der lang erwarteten Börsenpläne.
Zalando wurde 2008 von David Schneider und Robert Gentz in Berlin mit Investorenkapital der drei Samwer-Brüder gegründet. Die drei Brüder Marc, Oliver und Alexander, aufgewachsen in einer wohlhabenden Familie im Kölner Stadtteil Marienburg, gehören zu den prominentesten Internetunternehmern in Deutschland. Die Strategie der von den Brüdern 2007 gegründete Holding Rocket: Erfolgreiche Internet-Geschäftsmodelle werden kopiert und auf verschiedenen Märkten rund um den Globus ausprobiert. Bis heute haben sie zahlreiche Firmen gegründet, die sie innerhalb von kurzer Zeit wieder verkauft haben.
Kritiker werfen den Samwers vor, dass sie sich eines klassischen Schneeballsystems à la Carlo Ponzi bedienen. Dieser hatte von immer neuen Investoren immer neues Geld eingesammelt, damit die alten Investoren mit einem zufriedenstellenden Profit ruhig gestellt werden konnten. Letztes Jahr sagte Oliver Samwer gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: «Wir haben derzeit 75 Unternehmen und in fünf Jahren sollen es 200 bis 250 sein.» Oder: «Das Einsammeln von Geld hat gut geklappt.»
Eine interessante Lektüre über die Samwers findest du hier.