Seit einer Woche geht an den Börsen die Angst um – die Farbe Rot dominiert die Anzeigetafeln an der New York Stock Exchange, in Frankfurt und in Zürich. Am heftigsten aber erwischte es die japanische Börse.
Der Nikkei-Index, er basiert auf den Kursen von 225 an der Tokioter Börse gehandelten Aktien, verlor am Montag 4451 Punkte (-12,4 Prozent). Ein Rekordwert. Für den weltweiten Börsencrash gibt es verschiedene Gründe, dafür, dass es Japan am heftigsten durchschüttelte, liefern die Experten und Analysten aber vor allem eine Erklärung: sogenannte Carry-Trades.
Japans Leitzinsen, also die Bedingungen, unter denen Finanzinstitute Geld von der Zentralbank ausleihen können, sind seit fast drei Jahrzehnten enorm tief. Von 2016 bis März 2024 lag der Zins sogar im Negativbereich (-0,1 Prozent). Wenn Finanzinstituten das Geld fast schon nachgeworfen wird, greifen sie zu.
Eine beliebte Praxis dabei war, das in der japanischen Währung Yen geliehene Geld in die eigene Währung zu tauschen (beispielsweise in den US-Dollar) – und dann zu investieren. Beliebt dafür waren US-Staatsanleihen, die bis über vier Prozent Rendite abwerfen können. Die Differenz zwischen dem geschuldeten Zins an Japans Zentralbank und der erhaltenen Rendite (abzüglich sämtlicher Transaktionskosten) in den USA entspricht dem Gewinn. Ein fast todsicheres Geschäft. Man nennt es einen Currency Carry Trade, CCT, oder einfach nur Carry-Trade. Aber weil es eben nur ein fast todsicheres Geschäft ist, ist es jetzt in aller Munde.
Denn Ende März entschied sich die japanische Zentralbank, die Leitzinsen zu erhöhen – und am Mittwoch vor einer Woche gleich noch einmal. Geliehenes Geld wurde teurer. Aktuell stehen die Zinsen bei 0,25 Prozent – was im internationalen Vergleich noch immer wenig ist. Aber halt eine Trendwende.
Für Carry-Trades bedeutet das, dass sie an Attraktivität einbüssen und drohen, zur Hypothek zu werden. Deshalb wurden in den vergangenen Tagen enorme Mengen davon rückgängig gemacht. Und wie so oft bei der Börse: Wer im Lift nach unten den schnellen Ausstieg verschlief, schlug unten doppelt hart am Boden auf.
Warum?
Weil gleichzeitig der Yen gegenüber dem US-Dollar an Wert gewann – und die Rendite damit endgültig vernichtete. Dies, weil parallel zur japanischen Leitzinserhöhung die amerikanische Notenbank, das FED, Leitzinssenkungen für September in Aussicht stellte. Der Kurs der eigenen Währung gegenüber Fremdwährungen bewegt sich in der Regel in dieselbe Richtung wie die Leitzinsen. Antizipiert wird also eine Stärkung des Yen gegenüber dem Dollar. Und genau so kam es. Und zwar sprunghaft. Denn der Effekt wurde zusätzlich verstärkt.
Um einen Carry-Trade rückgängig zu machen, müssen zuerst die erstandenen Wertpapiere verkauft, der Erlös zurück in Yen gewechselt und der ausgeliehene Betrag der japanischen Zentralbank zurückerstattet werden. Geschieht dies in einem grösseren Ausmass, hat dies Auswirkungen auf die Aktienkurse – sie sinken, wenn grosse Mengen verkauft werden. Gleichzeitig steigt der Kurs des Yen – weil grosse Mengen davon gekauft werden. Setzen diese Effekte erst einmal ein, kreieren sie eine Art Abwärtsspirale. Denn je mehr die Aktienkurse sinken und der Kurs des Yen gegenüber (beispielsweise) dem Dollar steigt, desto unattraktiver werden die Yen-Carry-Trades. Wer vorher noch gewillt war, das Gewitter auszusitzen, der ist jetzt quasi gezwungen, seinen Trade zu beenden.
Über den Umfang der getätigten Carry-Trades existieren leider keine genauen Zahlen. Schätzungen der niederländischen ING-Bank gehen von 700 Milliarden seit 2021 aus – also weit mehr als einfach nur Taschengeld. Es sind Beträge, welche an Börsenwerten rütteln.
Leider sind damit die schlechten Nachrichten für Japan noch nicht zu Ende. Weil verschiedene grosse japanische Konzerne wie Sony, Hitachi oder Toyota den Löwenanteil ihres Gewinnes im Ausland erzielen, trübt ein höherer Yen-Kurs gegenüber ausländischen Währungen die Gewinnaussichten. Und was passiert bei schlechteren Gewinnaussichten? Die Aktien dieser Firmen leiden noch zusätzlich.
Deshalb traf der Börsencrash der letzten Tage die japanische Börse speziell hart. Mitte Juni noch stand der Nikkei-Index mit über 42’000 Punkten auf dem Höchststand. Heute dümpelt er bei 34’831 Punkten. Und ob der Tiefststand bereits erreicht wurde, steht in den Sternen.
*Die ist eine korrigierte Version. In einer ursprünglichen Version enthielt dieser Artikel ein Foto mit einer irreführenden Bildunterschrift.