Die Börse crasht – sprich, die Aktienkurse vieler Firmen werden zum Teil zu massiv tieferen Preisen gehandelt. Sind die Papiere Teil eines Aktienindex, leidet auch dieser – wie der bekannteste Schweizer Börsenindex, der Swiss Market Index (SMI). Er bildet den Kursstand der 20 wichtigsten an der Börse handelbaren Schweizer Firmen ab. Dazu gehören beispielsweise Nestlé, Novartis, die Swisscom, Holcim, die UBS, aber auch Geberit. Nestlé verlor heute zwei Prozent (Stand: 12.59 Uhr), ABB fast drei (2,93, Stand: 12:59). Das hat Auswirkungen auf den SMI: Er büsste heute beinahe drei Prozent ein (Stand 14:15).
Im Vergleich zu Aktienindizes anderer Länder ist das allerdings wenig. Der wichtigste japanische Index, der Nikkei, verlor heute über 12 Prozent, der Kospi aus Südkorea fast neun Prozent. Doch warum?
Börsenkurse sind das Resultat von Angebot und Nachfrage. Sind die Verkaufswilligen gegenüber den Kaufwilligen in der Mehrzahl, sinkt, so wie heute, der Preis. Sinken die Kurse auf breiter Front, also nicht nur für einen spezifischen Konzern, dann hat das mit gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen zu tun, welche sich über verschiedene Wirtschaftssektoren und Märkte erstrecken. Oder besser gesagt: Mit den Vorstellungen der Aktienbesitzer, was sich bald ereignen könnte, das gesamtwirtschaftliche Auswirkungen haben könnte. Denn: Aktienkurse sind immer auch ein Abbild der Erwartungen. Bekanntlich können sich Erwartungen erfüllen – oder eben nicht. Am Ende ist es die Summe der negativen Erwartungen, welche zu einem Einbruch wie heute führen.
Ausgelöst wurde der Ausverkauf an den Börsen letzten Donnerstag, kurz nachdem die amerikanische Regierung ihren monatlichen Bericht vorgelegt hatte. Dieser malte ein düsteres Bild: Die Erwerbslosigkeit stieg in den USA von 4,1 auf 4,3 Prozent. Dies ist der höchste Stand seit über drei Jahren. Gleichzeitig wurden nur 114’000 neue Jobs (ausserhalb der Landwirtschaft) geschaffen. Erwartet wurden 175’000. 100’000 wird als das absolute Minimum angesehen, um die amerikanische Wirtschaft auf Kurs zu halten.
Ende Juli ist die Zeit, in der viele Firmen ihre zweiten Quartalszahlen präsentieren. Diese sahen bei einigen amerikanischen Tech-Firmen wenig erfreulich aus. Intel beispielsweise rutschte in die Verlustzone und reagierte mit der Ankündigung, 15 Prozent der Belegschaft abzubauen. Amazons Aktie krachte nach den Quartalszahlen von 186 auf 161 Dollar – und das, obwohl die entscheidenden Umsätze gesteigert werden konnten. Das Problem bei Amazon ist: Der Onlineversandhändler und Cloud-Computing-Gigant kündigte massive Investitionen im Bereich KI an, welche sich auf den Gewinn niederschlagen werden.
Tech-Aktien gelten als Zugpferde – schwächeln sie, leidet der Rest mit.
Die erstaunliche Entwicklung, die ChatGPT, Midjourney und Co. an den Tag legten, zog die Investoren an wie ein frischer Haufen die Fliegen. Vor allem Chiphersteller Nvidia profitierte davon und wurde zur wertvollsten börsenkotierten Firma der Welt. Das explosionsartige Wachstum hatte zur Folge, dass der Kurs übersteuerte – dies wird nun korrigiert. Nvidia hat im Vergleich zum Höchststand einen Fünftel eingebüsst. Andere Firmen, welche ebenfalls vom KI-Boom profitieren, erfahren dasselbe Schicksal.
Die amerikanische Notenbank FED kommunizierte Ende Juli, trotz sinkender Teuerung die hohen Leitzinssätze (in den USA gibt es zwei) bei 5,25 bis 5,5 Prozent beizubehalten. Zu diesen Konditionen können Geschäftsbanken bei der Zentralbank oder untereinander Geld leihen. Es sind die höchsten Leitsätze seit 23 Jahren. 2020, während der Corona-Pandemie, hatte das FED die Leitzinsen auf 0 bis -0,25 gesenkt.
Mit der Erhöhung des Leitzinses bekam das FED zwar die Teuerung in den Griff, für die Aktienkurse ist sie allerdings Gift. Die Zinssätze und Aktienkurse bewegen sich in der Regel gegensätzlich. Jerome Powell, der Chef des FED, hat in Aussicht gestellt, im September die Leitzinsen zu senken.
Das Wort Rezession stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Rückgang. Eine Rezession bedeutet also nichts anderes als eine schrumpfende Wirtschaft – auf verschiedenen Gebieten: bei der Beschäftigung, bei der Produktion von Gütern, dem Realeinkommen, beim Einzel- und Grosshandel.
Schrumpft die Wirtschaft nur kurzfristig, wird noch nicht von einer Rezession gesprochen. Erst ab zwei aufeinanderfolgenden Quartalen (einem halben Jahr) wird in Europa von einer Rezession gesprochen. Interessanterweise entscheidet in den USA das private Wirtschaftsforschungsinstitut National Bureau of Economic Research (NBER) in Cambridge, ob die Bedingungen gegeben sind, dass man von einer Rezession sprechen kann. Es tut dies erst rückblickend.
Bei einem Rückgang der wirtschaftlichen Leistungen leiden auch die Aktienkurse, die einen mehr als andere. Als relativ stabil gelten Aktien von Basiskonsumgütern oder Bereichen der Versorgungswirtschaft.
Übrigens: Auch für die Angst an den Märkten (vor einer Rezession) gibt es einen Index. Der CBOE Volatility Index (VIX) bildet die erwartete Schwankungsbreite (und damit die Nervosität/Angst) der US-Märkte ab. Im Vergleich zu den Werten des letzten Jahres sprang dieser heute regelrecht in die Höhe.
Neben der unsicheren Wirtschaft bereitet Anlagewilligen auch die politische Lage Kopfschmerzen. Nach der Tötung von Hamas-Chef Hanija kündigte der Iran gegenüber Israel Vergeltung an. Beobachter rechnen mit einer Attacke in den nächsten Tagen. In welcher Form, wo, und wie umfangreich diese erfolgt, wird sich zeigen. Die Zeichen stehen aber definitiv auf Eskalation. Die Aussicht, dass sich der Konflikt im Nahen Osten zu einem Flächenbrand entwickeln könnte, zerstört jede Anlagefreude.
Doch auch die innenpolitische Situation in den USA ist nicht hilfreich. Im Zweiparteienland waren die Fronten zwischen Republikanern und Demokraten kaum je so verhärtet. Der Streit um die Präsidentschaft und die Vormacht in den Kammern hat sich von einem hart geführten Wettbewerb zu einem verbissenen Gemetzel mit unbekanntem Ausgang entwickelt. Donald Trumps wiederholte Aussage, dass es keine Wahlen mehr benötige, wenn er Präsident werde, suggeriert seinen Willen, den Rechtsstaat und die Demokratie in den USA auszuhöhlen. Wie ernst es ihm damit ist, ist wie bei sämtlichen seiner Aussagen nicht abschätzbar. Mit seinem instinktgetriebenen und opportunistischen Stil, in kompletter Ignoranz sämtlicher Fakten immer nur genau das zu sagen, was ihm gerade nützlich sein könnte, hat Trump in Sachen Unberechenbarkeit selbst für Politiker neue Dimensionen erreicht. Es ist heute schlicht unmöglich, den Gehalt einer Trump-Aussage auch nur zu erahnen – deshalb sind viele Chronisten dazu übergegangen, vom Schlimmsten auszugehen.
Auch der Ausgang bei einer Trump-Niederlage ist unklar. Die Stürmung des Kapitols nach der letzten Wahlniederlage forderte mehrere Tote. Donald Trump suggeriert immer wieder – es ist fast schon ein Kokettieren –, dass es erneut zu gewaltsamen Ausschreitungen kommen könnte. Auch das: kein guter Dünger für die Aktienkurse.
Beginnt der Kurs erst einmal zu wackeln, setzt der Effekt ein, dass Aktionäre plötzlich um ihre Gewinne fürchten müssen – und sie ins Trockene bringen wollen: Es beginnt ein Ausverkauf. Dazu ein Vergleich: Der SMI stand am 13. März 2020 auf 8367 Punkten – heute, nach dem Massacker, bei 11’582. Ähnlich sieht es bei anderen Aktienindizes aus. Das bedeutet, dass sich viele Anleger auch heute noch im Plus befinden. Sie werden sich Gedanken machen (müssen), ob sie diese erzielen oder eine mögliche Rezession aussitzen wollen.
Das nehme ich ganz gelassen.